AD VINUM
Die Kunst der Weinetikette


Für Karl Korab ging es dabei  wie stets in seiner Arbeit  um die intensive, sensible Auseinandersetzung mit dem Grundstoff, einer ganz besonderen, vielschichtigen Substanz, und um seine persönliche Deutung im Bild. Dazu gehörte diesmal aber auch der Dialog mit dem Auftraggeber und Partner, die Achtung und Beachtung seiner Gedanken.
So konnten Bilder entstehen, die viel mehr sind als künstlerisches Dekor oder eine wertvolle Auszeichnung, die sich nicht damit begnügen, klein und zweidimensional auf Flaschen zu kleben, sondern Durchgänge zur sinnlichen Wahrnehmung öffnen, zu genußreicher Erfahrung.
Die Kunst als Zeremonienmeisterin, der Wein als unheiliges Wunder, wie geschaffen für ein schönes Ritual: Schauen, riechen, schmecken. Auch der Künstler hebt als unsichtbarer Gast das Glas.

Österreich & Salz
Ein Mineral macht Geschichte


Eines der erstaunlichsten Salzvorkommen Österreichs findet sich in den Einwohnern dieses Landes: etwa 180 Tonnen. Jeder Mensch trägt an die 200 Gramm Salz in sich. Das Mineral ist zum Teil in den Knochen fest gebunden, zirkuliert aber auch mit Blut und Gewebewasser. Ohne Salz könnten die Zellen nicht leben, würden die Organe nicht funktionieren und der Wasserhaushalt geriete aus dem Gleichgewicht. Salz sorgt dafür, daß lebenswichtige Mineralstoffe und Spurenelemente in die Körperzellen gelangen und steuert die Funktion der Nieren. Salz sorgt dafür, dass Nervenzellen kommunizieren und Muskelzellen angespannt werden: Keine Bewegung, keine Kraftentfaltung ohne Salz. Das menschliche Salzvorkommen ist auch emotional und sinnlich erfahrbar: Tränen schmecken nach Salz. Übrigens sind nicht alle Tränen gleich: solche, die als Ausdruck einer starken Gefühlsbewegung fließen, enthalten deutlich mehr Eiweissstoffe und Hormone, als jene, die nur zur Befeuchtung des Augapfels dienen.

Alfred Komareks Weihnachtsgeschichten

Als der Zug in die Station einfuhr, waren Männer damit beschäftigt, bunte Pakete aller  Art von den Geleisen fortzuschaffen, Pakete bedeckten den Bahnsteig, quollen aus allen Türen und Fenstern, verstopften die Straßen, und der Kirchturm, der in ihrem Strom zu ertrinken drohte, läutete gellend um Hilfe.
Der Bürgermeister saß rittlings auf dem steinernen Löwen des Kriegerdenkmals und hielt eine Rede, die später berühmt werden sollte:
„Ich kann euch für Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr nicht ohnedies einen aus Plastik mit elektri- schen Kerzen habt, keine leise flackernden Träume geben. Ich kann euch keine Gaben für Weihnachten geben. Keine Freude am Brot, kein Behagen am Herdfeuer, keine Lust, die unge- straft bliebe. Wir haben alles. Ich kann euch nur bitten: Glaubt nicht an dieses Übermaß!“ Dann begrub eine Batterie auffällig etikettier- ter Weinflaschen abscheulichsten Inhalts den wackeren Mann.
Nun ergriffen die Einwohner von Vieldorf Geschenkpakete und wollten den Zug damit vollstopfen. Als Türen und Fenster hastig ge- schlossen wurden, gerieten die Leute in Zorn.
„Alle! Jahre! wieder!“, skandierten Sprechchöre, und Pakete wurden auf die Waggons geworfen. „Eine schöne Bescherung, nicht wahr?“

Alfred

Das mit dem Regentropfen war natürlich Pech. Er landete leichthin auf Alfreds rechter Schulter, als er vor die Tür trat, und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Alfred wusste nicht, wie ihm geschah, taumelte, stolperte und fiel hin. Es war Sommer, der Boden war feucht und warm, roch nach trägem Begehren. Alfred lag eine Weile da und atmete tief. Dann stand er auf, überließ den Bären zum Trost seinen Schreibtisch und schnürte sein Ränzel.
Schon ein paar Bäume weiter kam er unter die Räuber. Sie hielten ihn fest mit ihren groben Händen und leerten seine Taschen.
„Wie? Kein Geld? Dann her mit deinen Liedern, denn auch böse Menschen wollen so was haben! Auf deine Bilder werden die Räuberkinder mit ihren kleinen Pistolen schießen. Deine Wünsche spießen wir auf unsere Dolche und braten sie über dem Feuer. Und diese Träume da, die taugen weniger als nichts. Wir werfen sie in den Fluss und lassen sie ersaufen.“
Später, als die anderen schliefen, setzte sich der Räuberhauptmann, ein trauriger Riese, zu Alfred und starrte ins Feuer.
„Jeder fängt klein an, nicht wahr? Tagedieb war ich, dann Nachtdieb, Quacksalber und Rosstäuscher. Erst viele grausame Lehr- und Wanderjahre später habe ich es zum Raubritter gebracht: ein besserer Herr, sozusagen. Aber das war einmal. Heute bin ich weiter und pfeife auf das verlogene Theater. Nur noch Räuber, echt und ehrlich, anständig böse und bodenständig brutal. Da weiß jeder, was er an mir hat. Einmal bin ich zu einem Haus gekommen … so eins mit weißen Gardinen in den Fenstern und allerliebstem Grün ringsum. Den Garten habe ich in den Wind geworfen, das Dach mit bloßen Händen aufgerissen und die Mauern, Fenster und Türen ausgelacht. Am Ende war nur noch die Bewohnerin übrig. Nie werde ich vergessen, wie sie vor mir stand, nackt und schaudernd. Na gut. Ich bin ein höflicher Mann. ‚Gestatten Sie, mein schönes Gegenüber‘, habe ich gefragt, ‚dass ich Sie an mich reiße, raube, entführe, in meine Höhle zerre, aufs Bärenfell werfe und Feuer an Leib und Seele lege?‘“
„Und?“
Der große, böse Mann schwieg lange. Er starrte auf seine schmutzigen Hände, auf seine schmutzigen Schuhe, warf Holz ins Feuer und auf seinem Gesicht tanzten rote Schatten.
„Was soll ich sagen? Drei Tage und drei Nächte hat sie bei mir gewohnt.“
„Und dann?“
Der Räuber stand auf und wandte sich ab. „Sie hat nachhause gewollt, weil sich einer sonst kränken würde. Einer wie Sie, mein Herr.“

Alt, aber Polt

Langsam setzte Polt seinen Weg fort. Derzeit gab es ja niemanden, der auf ihn wartete. Frau und Kinder würden erst in knapp zwei Wochen heimkehren. Und sein ebenso dicker wie selbstbewusster Kater, Czernohorsky mit Namen, war schon vor einigen Jahren für immer gegangen. Seiner ausgeprägten Wesensart folgend, hatte er das an sich betrübliche Lebensende durchaus stilvoll und lustbetont inszeniert. Als eine seiner vierbeinigen Favoritinnen merklich Sehnsucht verspürte, näherte sich Czernohorsky, wartete gelassen das hitzige Treiben jüngerer Nebenbuhler ab, um endlich mit gereifter Leidenschaft ans Werk zu gehen. Anschließend kam er ermattet nach Hause, schlief ein und wachte nicht mehr auf.
Der Klang einer dünnen, melancholisch verirrten Frauenstimme holte Polt aus seinen Gedanken. Er ging neugierig auf ein Presshaus zu, von dem er wusste, dass es einer Wienerin gehörte, die ins Wiesbachtal gezogen war: eine Schauspielerin, angeblich berühmt gewesen und nunmehr bemüht, das flache Land mit ihrer Kunst zu erhöhen. Mira Martell nannte sie sich. Polt schaute durch den Türspalt, sah leere Sesselreihen und einen Lehnstuhl, in dem die ältere Frau saß.
„Und warf den heil’gen Becher hinunter in die Flut“, hörte er sie singen. Dann kippte ihre Stimme, brach ab, der Kopf sank an die Brust. Polt erschrak ein wenig, klopfte und trat ein. „Ist was? Kann ich helfen?“
Frau Martell hob den Kopf und lächelte dem Besucher zu. „Die Augen täten ihm sinken. Trank nie einen Becher mehr.“ Sie schaute auf das leere Glas in ihrer Hand. „Wenn Sie in der Schule aufgepasst haben, Herr Polt, kennen Sie diese Zeilen: ‚Es war ein König in Thule ...“
„Ja, ich kann mich so ungefähr erinnern. Vor allem, weil ich mich als Bub immer gefragt habe, was ein Buhle ist.

Schräge Vögel
Faszinierende Lebensentwürfe

Es gibt sie noch, die schrägen Vögel. Sie nisten im Schweigen der Schwätzer, unter den Dächern der Unbehausten, hinter den Regeln der Vernunft, über den Niederungen des Größenwahns, in Wissenslücken, Budgetlöchern und in der Höhle des Löwen. Sie fliegen zu ebener Erde, sie fallen in den Himmel, sie wachen in ihren Träumen auf. Schräge Vögel sind zu allem fähig, sie nehmen sich alles heraus und denken nicht daran, alles hinzunehmen. Sie mögen Künstler oder Abteilungsleiter sein, Spötter oder Propheten, Menschenfreunde oder Eigenbrötler, Clowns oder Gelehrte, Träumer oder Maschinisten, Forscher oder Eremiten, doch eines sind sie nie: so wie die andern. 
Um sie wogt die breite Masse, überragt von Angebern, übertönt von Schreihälsen, kommentiert von Besserwissern, gelenkt von Geschäftemachern, beherrscht von der angemaßten Macht der Mächtigen.
Ohne schräge Vögel wäre die Welt schier zum Verzweifeln, oder zumindest sehr, sehr langweilig. 
Aber es fehlt zusehends an Lebensraum für diese ohnedies schon rar gewordene Spezies. Auch ihre Welt wird reglementiert, betoniert und parzelliert. Wer nicht in den Raster passt, passt nirgendwo hin.
In diesem Buch geht es demnach um eine aussterbende Gattung oder, positiv gesagt, um deren Würdigung und Ermutigung. Die schrägen Vögel mögen doch bitte, bitte weiter flattern: allen zur Freude, die gerne so wären wie sie, aber auch um jene zu ärgern, die sich gestört sehen. 
Fürs erste kann es nur um eine kleine Zahl rarer Köpfe gehen, aber sie stehen fürs Ganze. Die Auswahl zeugt von hemmungsloser Willkür, die Beschreibung von ungenierter Subjektivität (passt ja irgendwie zum Thema). 
Dennoch: Dies ist der Anfang eines ambitionierten Artenschutzprojektes. Man wird ja lesen, wie es weitergeht..

Reihe: Österreich von innen
Wachau


Schon merkwürdig, diese Kontinuität der Gegensätze … Barriere und Öffnung, Abgrenzung und Durchdringung, das Fließende und das Beharrende, Ufer, die einander nahe sind, und doch liegen Welten dazwischen. Und dann noch spröde Beziehungen. Das Waldviertel und der Dunkelsteinerwald lassen dieses helle, sonnige Tal nur als Ausnahme von ihrer kühlen Gebietshoheit gelten, die Donau als einen Fluss mit Immigrations-hintergrund, na schön, mit vorerst unbefristeter Aufenthaltsgenehmigung. Der Strom seinerseits erklärt die waldigen Randerscheinungen zur Ausnahme, zieht seiner Wege und wäre immer noch ungestört der Alte, gäbe es nicht diese Menschen an ihm und auf ihm. Sie haben die Hänge in ein Netz von Mauern verstrickt, ebene Flächen im Unebenen geschaffen, sie haben ihre Häuser überall dort gebaut, wo die Landschaft und die Weingärten ein wenig Platz übrig ließen. Und dann sind sie auch noch frech geworden: Eisenbahn, Uferstraße und zuvor aber noch der Widerspenstigen Zähmung, die Austreibung der Nixen und Wassermänner, die – welch schreckliches Wort – Regulierung.

Reihe: Österreich von innen
Semmering


Es ist schon einige Jahre her, da war ich mit einem seltsamen Gefährt und einem bemerkenswerten Gefährten zur Passhöhe des Semmering unterwegs. Bei dem Gefährt handelte es sich um ein Mopedauto mit bulligen 5,4 PS und der Gefährte war Peter Kumpa, ein famoser Fotograf, wenn er es nicht gerade vorzog, ausführlich zu essen und zu trinken. Nach rasender Bergfahrt und vielleicht zwei, drei Ewigkeiten (wir überholten immerhin einen Traktor und zwei Radfahrer, ein dritter hingegen überholte uns) war die Passhöhe zu unserem Erstaunen erklommen. Wir versäumten es nicht, bei dieser Gelegenheit einen mächtigen Gedenkstein unter ausgebreiteten Adlerschwingen mit geziemendem Respekt zu betrachten, der folgende Inschrift trägt: „Dem ersten kühnen Überflieger des Semmerings 3. 5. 1912, Feldpilot Oberlieutenant Eduard Nittner – Seine Kameraden und Verehrer“. Wer nun milde lächelnd den Kopf zum Firmament hebt und an den aktuellen Stau tausende Meter weiter oben denkt, tut dem Piloten von damals natürlich unrecht. Er überflog den Semmering auf dem Weg von Wiener Neustadt nach Graz nämlich mit einer Etrich Taube, einer sehr fragilen und nur andeutungsweise motorisierten Konstruktion aus mit Stoff bespannten dünnen Hölzern.

Polt
Die Klassiker in einem Band


Robert Reuter lehnte sich bedächtig zurück. Sein Gesicht erinnerte Polt an das Bild des Weihnachtsmannes, das er einmal in einem Kinderbuch gesehen hatte: eine rote fleischige Nase, rote Wangen und lustige, listige Augen, wild umwuchert von weissem Haar. „Ich darf ein wenig ausholen, mein Guter, wir haben Zeit, viel Zeit. Das Bacchanal ist ein altrömisches Trinkgelage in der Tradition des Kultes um den Griechengott Dionysius, nur derber, sinnlicher, schmutziger: Der Mensch mutiere zum Tier, damit er die Götter eintreten lasse. Dieses goethesche Stirb und Werde ist es, mein Sohn! Die Seele verliert sich in ahnungsvoller Weite, das Bewusstsein vermählt sich mit Fremdem, das Fremde ist vertrauter als das eigene. Der Mensch entdeckt in sich jenes Wesen, das er sein könnte, er nähert sich den Göttern, wird Gott.“
„Das ist mir zu hoch.“
„Weil deine Gedanken zu Fuss gehen, Simon Polt, statt zu fliegen. Heute bist du eingeladen, den Schritt in den Abgrund und über den Abgrund zu tun. Nur heute und dann nie wieder.“
Polt spürte ein Kribbeln im Nacken. „Und wie geht das?“
Robert Reuter griff hinter sich und stellte einen mächtigen Humpen mit dunkler, fast schwarzer Flüssigkeit auf den Tisch. „Nunc est bibendum!“

Zwölf mal Polt

Simon Polt glaubte zu trinken wenn er atmete. Der Gendarmieinspektor hatte einen dienstfreien Tag und saß mit seinem Freund Ernst Höllenbauer im Presshaus. Aus einem großen Edelstahlbehälter stieg der beerige Duft gequetschter roter Trauben, vermischt mit dem herben säuerlichen Geruch des Tresters, der zur Lesezeit vor den Weinkellern aufgehäuft war. Doch erst das alte Presshaus vollendete mit einem Hauch von Holz, feuchter Kellerluft und Pilzen das Bouquet in Polts Nase. Sonnenlicht fiel durch die offene Presshaustür und die kleinen Fensterluken und malte helle Rechtecke auf den abgetretenen Ziegelboden. Neben dem Behälter mit der Maische lagen Traubenreste. Polt deutete mit einer Schuhspitze auf einen roten Fleck.
„Was ist jetzt mit deinem Blauen Portugieser?“
Der Höllenbauer räusperte sich. „Was soll schon sein? Abseihen, das Ganze. Der Saft wird weggeschüttet und der Rest kommt als Dünger in den Weingarten. Zweitausend Liter, ein teurer Spaß! Aber auch schon egal.“
„Ja, allerdings. War ein ordentlicher Schock, das mit der Leiche, nicht wahr?“
Der Höllenbauer stand schwerfällig auf. „Mir wird jetzt noch übel, wenn ich daran denke. Ich bereite heute früh alles für das Pressen vor, schau mir noch einmal die Maische an, greife hinein, stoße auf was Festes und hab den Rock von diesem toten Japaner in der Hand. Verdammt noch einmal, was hatte der in meinem Presshaus zu suchen?“

Anstiftung zum Innehalten

Gold gab ich für Eisen

Wenn es darum geht, Leuten etwas wegzunehmen waren und sind Demagogen aller Art erstaunlich kreativ - auch in der Kunst, ihr räuberisches Vorhaben in hehre Worte zu kleiden. Es wird ja niemandem etwas weggenommen, Gott bewahre, freiwillig wird gegeben, zum Beispiel, um dem geliebten, darbenden Vaterland zu helfen. Prinzessin Marianne von Preußen hatte erstmals die hübsche Idee, das Gold ihrer Untertanen gegen eiserne Symbole patriotischer Gesinnung zu tauschen - und sie fand eifrige Nachahmer. Für die Bereitschaft, sich von seinen Schätzen für einen höchst zweifelhaften Gegenwert zu trennen, ist natürlich schon mehr als ein vermeintlich edles Motiv vonnöten. Recht zuverlässig wirkte und wirkt sozialer Druck: wer nicht mittut, steht als peinlicher Außenseiter da.
Als früher Meister in der Kunst berechnender Verführung ist uns ein biblischer Demagoge in Schlangengestalt vertraut. Mit sozialem Druck konnte das Reptil bei Adam und Eva noch nichts zu erreichen, weil die Beiden mit ihrem höllischen Einflüsterer ja allein auf der Welt waren. Aber es gab dennoch ein paar gefährlich animierende Motive: Intellektuellen Hochmut, nimmersatte Habgier, eitle Selbstüberschätzung und den nagenden Verdacht, dass auch das Paradies noch nicht alles gewesen sein konnte. Es gibt einfach nichts, was nicht zu toppen wäre, wie es in schnödem Neudeutsch heißt. Am Ende hatten die beiden verderbliches Obst vom Baum der Erkenntnis in Händen, kein Paradies mehr, dafür aber Mühsal und Unannehmlichkeiten aller Art, die Erbsünde, einen mörderischen Sohn, und dazu den Drang ihre Blöße verschämt zu verhüllen, womöglich auch noch modisch. Herr Lagerfeld hat etwas Schlangenartiges an sich. Hat er doch, oder?
Wer sich Schätze abschwatzen lässt, sie vergeudet oder verspielt, möchte rasch wieder welche anhäufen, und es darf diesmal ruhig etwas mehr sein, weil es ja schließlich nie genug sein kann. Seit es Menschen gibt, rennen sie - nicht alle aber immer mehr von ihnen - mit zunehmender Hast und Verbissenheit angeblichen Paradiesen hinterher. Die Ergebnisse dieser Aufholjagd sind aber insgesamt nicht sehr eindrucksvoll. Weit und breit kommt kein nur annähernd überzeugendes Elysium in Sicht, aber merkwürdig krumm gewachsene Bäume der Erkenntnis stehen allerorts am Wegesrand und in den Kronen warten listig züngelnd irgendwelche Schlangen auf Dumme (mich eingeschlossen), die fast um jeden Preis noch mehr haben wollen und schon wieder Gold für Eisen geben.
Und wenn ich schon am Schreiben bin, will ich doch gleich einmal über das Schreiben schreiben. Angefangen hat es bei mir mit Feder, Tintenfass und schwarzen Fingerkuppen. Die Feder war billig, also kratzig, und hat sich dagegen gesträubt, etwas zu Papier zu bringen. Der umständlichen Handhabung des Schreibgerätes entsprach aber auch ein bedächtiger Umgang mit Gedanken, Wörtern und Sätzen. Wenige Jahre später hielt ich meine erste Füllfeder in der Hand: jetzt ging es eleganter, flüssiger und ohne angeblich störende Pausen dahin. Das machte unbestritten Spaß, führte aber auch dazu, manches einfach nur so und ohne viel darüber nachzudenken hinzuschreiben, weil es eben leicht von der Hand ging. Ja, und dann der Kugelschreiber ...  billig war er, flott und zeitgeistig. Schreibfedern waren erst einmal so was von Gestern. Auf diese Weise geriet der Dialog zwischen Hand und Papier leichthin zum Small Talk und das Schriftbild  gab nur noch einen Teil der Handschrift wieder, reduziert auf eine schmale, für alle gleiche Rollspur. Mit der Schreibmaschine wurde schließlich aus der schreibenden Hand eine, die Tasten drückte. Aber alles lief schon wieder schneller und produktiver, auf Wunsch sogar mit mehreren Durchschlägen. Dann bekamen die Schreibmaschinen Bildschirme: Zwischen Mechanik und Papier spielten jetzt auch noch Halbleiter mit. Die Beziehung zwischen dem Schreibenden und seinem Schriftstück war endlich zeitgemäß: aufregend neu, befreiend unverbindlich, weil jederzeit korrigierbar, und trendy (was immer das bedeuten mochte). Es war außerdem ohnehin nicht mehr weit zum Computer: Texte wurden nicht mehr geschrieben sondern elektronisch verarbeitet. Also nichts wie hinein, in die neue Wunderwelt. Verspielt und neugierig wie ich war und bin, musste es immer das neueste elektronische Schreibwerkzeug sein, natürlich auch vom Design her aufregend - und so halte ich es in aller Unvernunft bis heute. Aber meuchlings hat sich eine Gegenwelt des Schreibens bei mir und in mir etabliert. Ich glaube, es war Hans Weigel, der mich darauf gebracht hat. In seinen letzten Lebensjahren hatte er mich mit unwilliger Gebärde ein wenig an sein großes Herz gedrückt. Und so stand ich eines Tages wieder einmal in seiner Tür und hatte eine Diskette mitgebracht, auf der ein Text gespeichert war, für den ich mich gerne hätte loben lassen. Aber die Schreibstube des Herrn Weigel wies keinen Schlitz für Datenträger auf. Da gab es nur eine uralte Underwood auf die er fröhlich und unverdrossen eindrosch. Ich war als Schriftsteller auf dem neuesten Stand der Technik. Er war technisch gesehen von Gestern aber der bessere Schriftsteller, der viel bessere. Inzwischen schreibe ich Manches wieder mit der Hand, der Bedächtigkeit, Sinnlichkeit, Nachdenklichkeit und des Nachdrucks wegen. Längere Texte korrigiere ich wenigstens händisch, um mir Zeit für sie zu nehmen, mir Mühe mit ihnen zu geben. Aber die auf mich spezialisierte Schlange weiß natürlich schon wieder falschen Rat: „Jetzt brauchst Du aber eine besonders edle Füllfeder, mein Lieber, und wenn Du die hast, wirst Du ohne adelige Bleistifte nicht mehr auskommen, auch eine Sammlung historischer Schreibgeräte stünde dir und deinem Selbstverständnis gut an, Du kannst gar nicht genug davon haben. So nebenbei - es versteht sich wohl von selbst - musst Du endlich konzentrierter arbeiten, mehr und schneller schreiben, eiliger abliefern, damit Du dir deine ehrwürdigen Denkmäler schriftstellerischer Handarbeit auch leisten kannst.“ Apage Satanas, antworte ich bildungsbeflissen und bin dennoch schon wieder dabei, eine wertvolle Erkenntnis eilfertig gegen eine kostspielige Liebhaberei zu tauschen. Zum Teufel mit mir.
Aber bleiben wir doch bei elektronischen Verheissungen und Verirrungen. Anfang der 90er Jahre geschah in Österreich Erstaunliches. Der in Graz entwickelte MUPID bot die Möglichkeit, über den Fernseher das BTX-Netz zu nutzen. Anders gesagt: Da gab es plötzlich prähistorisches Internet für Jäger und Sammler, sogar die Benutzung vom Programmen im Netz, Steinzeit-Cloud-Computing. Ich, damals noch hemmungslos begierig nach neuen Möglichkeiten der Kommunikation und des vernetzten Interagierens, war hingerissen. e-mail? Kein Problem. Online-Spiele? Aber ja! Recherche im Netz? Selbstverständlich. Homebanking? Na klar. Außer mir gab es noch ein paar Irre, die fasziniert in eine Zukunft stolperten, für die es noch zu früh war - manche zählen bis heute zu meinen Bekannten. Bald erwies sich der (übrigens bildhübsche) MUPID als nicht markttauglich, klobige Personal Computer verhäßlichten an seiner Stelle das traute Heim, wo sie als unvernetzte Einzelgänger auf eine Zukunft warteten, die im Prinzip bereits stattgefunden hatte. Als dann das Internet rasend schnell allgegenwärtig und allwissend wurde, fing ich schon einmal damit an, mich nach kommunikativen, intellektuellen und emotionellen Schrebergärten zu sehnen. Schön, diese weit geöffneten Türen überall hin, aber es war zu viel von allem, und es wird immer mehr zu viel. Wenn dann auch noch die Propheten grenzenloser elektronischer Promiskuität diktatorische Töne  anschlagen, werde ich misstrauisch und widerspenstig. „Ohne funktionierendes Netz und Internetzugang geht bald nichts mehr“ lese ich. Ah ja. Weil sich Fernseher, Kühlschrank, Zentralheizung, Staubsauger, Handy, Radio, Auto, PC und Kreditkarte nicht im gewünschten Maße austauschen können, werden sie bald einmal beleidigt aufhören zu funktionieren. Nicht zu vergessen: Ich selbst möge mich gefälligst damit abfinden, auch Teil dieses Netzwerkes zu sein, überall und jederzeit erreichbar und verfügbar, irgendwann mit einem Chip unter der Haut und einem Strichcode am Hintern. Also, ich weiß nicht recht.
Ich kann mich sehr gut an eine Zeit erinnern, als Managerkrankheit ein Statussymbol war und Stress ein Symptom beruflichen Erfolges. Ein paar Jahre später waren die gehetzten, magenkranken Fortschrittsknechte ausgebrannt und machten gelassen wirkenden Nachfolgern Platz, die zwar auch zahlreiche  Aufgaben und Termine zu bewältigen hatten, diese aber  mit dicken, in feines Leder gebundenen Organisationsplanern rationell und souverän verwalteten. Als sich dann herausstellte, dass solche Raster zwar gut zu eifriger Pflichterfüllung und kreativem Mittelmaß passten, nicht aber zu selbstbewusster Individualität und persönlicher Lebensqualität, waren jene erfolgreich, die nicht alles sofort und zugleich erledigten, aber das Wichtigste zum besten Zeitpunkt, gründlich und qualitätsvoll. Und dann: das Netz, der ultimative Baum der Erkenntnis, diesmal mit einer als Spinne getarnten Schlange, die Google heißt, oder so. Wenn sich erst einmal alle im Netz auf ähnliche Weise wichtig machen, ist keiner mehr wirklich von Bedeutung. Diesmal bin ich fast schon stolz auf mein energisches Innehalten. Ich habe nicht unzählige Facebook-Friends sondern eine Handvoll guter Freundinnen und Freunde, und weil ich nicht für Jedermann und Jederfrau jederzeit und überall zu haben bin, kann ich mir Zeit nehmen für Gespräche, die Kopf und Herz erfreuen, für Briefe, ob elektronisch oder auf Papier, die Inhalte weitergeben, keine Worthülsen. Ist doch schön, Qualität nicht der Banalität zu opfern, selektiv zu leben statt beliebig. Und wie ist das mit dem sozialen Druck? Wer nicht mittut, steht alleine da? Gerade das geniesse ich zuweilen sehr.

Polt

Polt war bereits im Gehen, als der Weinwurm Rudi unsicheren Schrittes durch die Tür kam. Er schlingerte auf den nächstbesten Tisch zu und liess sich umständlich nieder. Polt  trat zögernd an ihn heran. "Wie immer, Rudi?"
Der späte Gast versuchte sich in einer theatralischen Handbewegung, die auf halben Weg erstarb. Polt stellte ihm ein Achtelglas Kirsch-Rum hin. "Du bringst dich um mit den Zeug."
"C' est la vie!" Weinwurm trank, grinste und griff nach dem illustrierten Heimatblatt. Dann setzte er eine interessierte Miene auf, die nichts zu bedeuten hatte, wie Polt wußte. Er schaute zwar in die Zeitung, aber er las nicht. Alles an diesem Menschen war nur noch Pose: Seine Kleidung, helles Sakko, dunkle Hose, offenes Hemd, sollte nachlässig elegant wirken, doch er hatte sie seit Wochen nicht mehr gewechselt. Auch volltrunken standen Weinwurm ein paar originell sein wollende Stehsätze zur Verfügung, doch ihre Anzahl wurde zunehmend geringer. Das alles war schmerzlich für Polt. Rudi Weinwurm war nämlich dereinst Gendarm gewesen, ein guter Gendarm, und ein noch besserer Kollege. Der Umstand, dass er trank, wirkte sich lange Zeit nicht auf auf seine berufliche Tätigkeit aus. Später kam es aber doch zu vermehrten Fehlleistungen. Eines Tages dann hatte sich der Rudi Nachts in der Dienststelle unter nie ganz geklärten Umständen mit der Dienstwaffe die rechte große Zehe abgeschossen. Damit war seine Laufbahn in der Gendarmerie beendet. Seitdem spielte Rudi Weinwurm den Bruder Lustig, doch er spielte seine Rolle lächerlich schlecht und von Mal zu Mal noch schlechter. Zwischendurch, immer seltener allerdings, raffte er sich zu Gelegenheitsarbeiten auf. Viel weniger Überwindung kostete es ihn, seine ehemaligen Kollegen aus der Gendarmerie an ihre wie er es nannte Solidaritätspflicht zu erinnern. Auch dafür konnte Polt ein gewisses Verständnis aufbringen und er nahm es als selbstverständlich hin, dass Weinwurm seine Zeche auch diesmal nicht bezahlen würde. Viel mehr bedrückte es ihn, dass der ehemalige Gendarm in letzter Zeit kleine Betrügereien begangen hatte und, schlimmer noch, Informationen aus seiner aktiven Dienstzeit erstaunlich geschickt für Erpressungen nutzte. Die geforderten Beträge waren recht gering und keines der Opfer dachte daran, sich wegen zwanzig oder dreissig Euro Unannehmlichkeiten einzuhandeln. Aber alles in Allem war Rudi Weinwurm auf dem besten Wege sich vom Säufer, den niemand so richtig im Stich lassen wollte, zum allseits verachteten Kleinkriminellen zu entwickeln.
Auf eine gezierte Handbewegung hin servierte ihm Polt ein zweites Glas. "Das letzte für heute, aber wirklich!"
"C' est la vie." Weinwurm fand es nunmehr angebracht umzublättern, stierte eine Weile in die Zeitung, liess sie dann aber sinken. Er hob sie wieder, hielt das Papier dicht vor seine Augen, warf die Zeitung auf den Tisch, nahm das volle Glas, schmiss es an die Wand, stand auf, kippte den Tisch um und reckte beide Hände, zu Fäusten geballt, nach Oben. "Heureka!" schrie Rudi Weinwurm und übergab sich.

Späte Stunde

Simon Polt packte den ehemaligen Gendarmen am Rockkragen. "Das reicht jetzt, Rudi. Wa hast denn auf einmal?"
"Kannst loslassen Simon. Gibst' mir einen Fetzen? Dann wisch ich auf." Rudi Weinwurm wirkte merkwürdig nüchtern. Er tat seine Arbeit, Polt stellte den Tisch auf die Beine und rückte die Sessel zurecht. "Also, was war?"
"Nichts, oder alles. Wer weiß. Kommst mit mir Nachhause, alter Freund und Nussknacker? Mir ist nach Reden."
"Mir aber nicht."
"Bitte!"
"Meintwegen ..."
"Weisst Du noch, Simon, wie  wir dem Schuster Herbert den Führerschein zupfen wollten, an diesem heissen Augusttag damals?"
"Kann mich erinnern."
"B'soffen war er wie immer, aber Blasen hat er nicht wollen, weil er angeblich so schwer lungenkrank war. Also Blutabnahme. Der Gemeindearzt wollt' den Alkohol nicht bestimmen, und dass wir die Probe gekühlt nach Breitenfeld in Spital bringen, war uns zu blöd. Ist er halt weitergefahren der Herbert. Das waren Zeiten!"
"Schon gut." Simon Polt schaute sich um. Eigentlich hatte er ein verwahrlostes Zimmer erwartet: gebrauchte Wäsche, dreckiges Geschirr, Gerümpel. Aber Rudi Weinwurm residierte in seinem umgebauten Presshaus zwar beengt, aber durchaus ordentlich und sauber. Polt sah einen kleinen Küchenblock, eine Duschkabine und vor allem ein französisches Bett mit einer Zierdecke auf der zahlreiche Pölster lagen. Rudi Weinwurm folgte seinem Blick. "Da schaut er der Herr Gendarm, wie? Und soll ich dir was verraten, Simon? S' G'wand ist dreckig, aber die Unterwäsch' ist sauber." Er starrte ins Leere. Ist wie bei einer Zwiebel, weißt? Irgendwann ist die äußerste Schale schäbig worden, der Beruf, verstehst? Und dann war sie weg, die Schale. Später war dann irgendwann das Hirn hin von der Sauferei, dann der Charakter, dann die Achtung vor mir selber. Aber eine Zwiebelschale hab ich noch." Weinwurm wies mit umfassender Gebärde in die Runde: "Zuhause wird nicht gesoffen." Er lachte. "Drum sauf ich mich ja anderswo nieder, damit ich's aushalt'. Und ich wasch mich. ich wasch mich!" Simon Polt konnte sich nicht daran erinnern, von Rudi Weinwurm in den letzten Jahren derart viele zusammen hängende Sätze gehört zu haben. Vielleicht hat er sich nüchtern gesoffen, soll's ja geben, überlegte Polt und beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen. "Du Rudi! Der Tote im Weingarten ... sagt dir der was?"
Weinwurm schwieg und machte schmale Augen, als wolle er bedrohlich dreinschauen. Dann griff er nach Polts Knie. "Wenn einmal ans Licht kommt, was ich weiß, wird's finster Simon. Sodom und Gomorra, wenn dir das was sagt. Eine biblische Sauerei. Der Norbert Sailer ist dein Freund, was?"
"Ja."
Ein armes Schwein. Die Birgit auch, die Birgit auch ..." Weinwurm griff sich zwischen die Beine.
"Saubartl!"
"Ich hör ja schon auf. Soll alles gut ausgehen, nicht wahr für alle!" Er wischte sich über die Augen. "Man hat ja ein Mitgefühl als Mensch."
"Und vorhin, im Wirtshaus?"
"Hat irgendwie der Blitz eing'schlagen. Ich hab's richtig gerochen, das verbrannte Fleisch, und weh hat es getan, verdammt weh. Herrlich war das, g'spürt hab ich mich wieder einmal. Einen Rudi Weinwurm haut ein Donnerwetter nicht um, im Gegenteil. Und jetzt zeig ich dir was." Er stand auf, kramte in einer Schublade und kam mit einem Blatt Papier zurück. "Ein Brief an die Polizeidirektion. Tausendmal umgeschrieben, ergänzt und verbessert. Reines Dynamit, sag ich dir, Simon, wenn das hochgeht ist alles hin. Aber ich bin wieder wer."
"Lass sehen!" Simon Polt betrachtete das wirre Dokument aufmerksam und erschrak.

Doppelblick

Das Hauptgebäude hoch über dem Tal der Ischl, der Doppelblick , wirkte auf Daniel Käfer wie ein ehemaliges Hotel, oder wie ein sehr großes Wirtshaus: massives Mauerwerk, zwei Stockwerke, mit einem ausladenden hölzernen Balkon. Es dämmerte schon. Dennoch war hinter keinem der vielen Fenster Licht zu sehen.
Käfer wollte schon wieder gehen, aber mit jedem Schritt, den er machte, hielt ihn das Haus stärker fest, zog ihn an sich. Er blieb stehen, ging auf das Gebäude zu und verharrte vor der Eingangstür. Er griff nach dem eisernen Klingelzug, hörte ein helles Geräusch, sonst nichts. Käfer wartete geduldig. Nach einigen Minuten wollte er es noch einmal versuchen, fuhr aber erschrocken zusammen, als er hinter dem Türglas ein Gesicht zu erkennen glaubte. Tatsächlich schwang das Tor auf. Vor Käfer stand ein dunkel gekleideter Mann mittleren Alters. Aus einem sehr schmalen, zerbrechlich wirkenden Gesicht schauten graue Augen, so hell, als wären sie durchscheinend.
"Sie stören hier." In der Stimme des Mannes war kein Ärger, wohl aber entschlossene Abwehr.
"Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung. Aber ihr Haus ..., ich konnte irgendwie nicht anders ..."
"Was wollen Sie?"
"Das ist nicht mit einem Satz gesagt. Darf ich's erzählen?"
"Ja, aber nicht mir."
Der Mann schwieg, schwieg so lange, dass sich Käfer schon verlegen abwenden wollte. Doch dann spürte er eine leichte Berührung am Arm.
"Warten Sie ... Ich hatte eine Tante, die ist schon lange tot. Der können Sie’s erzählen. Sie müssen flämisch mit ihr reden. Und sie mag ihren Tee mit Kandiszucker und einem Tropfen Milch, denken Sie daran. Und gehen Sie bitte. Ich will die Tür nicht schließen, so lange Sie davor stehen. Gute Reise, und eine gesegnete Zeit."


Spätlese

(aus der Ö3- Sendung "Melodie Exklusiv - sentimentale Beispiele")

Alfreds Alltag war lange Zeit an Alltäglichkeit kaum zu überbieten. Jeden Morgen verschlief er, um anschliessend zu spät zu kommen. Mittags nahm er gewöhnlich den Mund zu voll, nachmittags verlor er die Beherrschung und abends fand er sie wieder - just in dem Augenblick, da er sie gerne seiner Leidenschaft geopfert hätte. Alfred beschloss, etwas dagegen zu tun. Jeder Tag sollte anders werden. Wahrhaftig: Montag flog er aus der Firma, Dienstag aus dem Sparverein. Mittwoch wurde er des Stammtisches verwiesen, Donnerstag jagte ihn seine Frau aus dem Haus, Freitag entledigte sich die Partei seiner Mitgliedschaft und Samstag wurde er mit dem Kirchenbann belegt. Dem Sonntag blieb Besonderes vorbehalten: Alfred wurde in Film, Funk und Fernsehen präsentiert: Als schlechtes Vorbild. Alles in allem blieb Alfred aber ein unbeschriebenes Blatt. Also kritzelte er sich ein Jahr auf den Leib und verdingte sich als Kalender, als Taschenkalender, wie es seinem Format entsprach. Er verfügte auch über einen reichhaltigen Nachschlageteil: Die Entfernung des Fräulein N. zu allen Herren Europas. Die spezifischen Gewichte politischer Aussagen. Die Parlamentsfinsternisse, Übermasse und Untergewichte, Bestechungsgebühren und ungesetzliche Feiertage. Außerdem bot Alfred einen wöchentlichen Spruch zum Tage (siebenmal zu beherzigen), etwa: Nur ein kopfloser Fisch beginnt am Schwanz zu stinken. Oder: Man soll den Chef nicht vor dem Ausgleich loben. Trotzdem krankte Alfred an geringer Auflage: Ein Stück, das Belegexemplar. Er lebte sich wacker durch, bis er zum letzten Kalenderblatt gekommen war. Ein paar Termine waren eingetragen: 17 Uhr: Die Welt aus den Angeln heben. 18 Uhr 30: Die große Liebe, abendfüllend. 23 Uhr: Paradies. 24 Uhr: Vertreibung.


Narrenwinter

Wieder im Zimmer, versuchte Daniel Käfer zu lesen, doch seine Gedanken schrieben verwirrende Zeilen zwischen die Zeilen im Buch. Also schlug er sein Notizheft auf, fand seine Notizen banal und strich sie durch. Dann fiel sein Blick auf die beiden Betten, die diesseits und jenseits der Sitzgarnitur dicht an der Wand standen. Käfer rückte den Tisch und die Sessel zum Fenster hin und schob dann energisch eines der Betten quer durch den Raum zum anderen Bett. Aufatmend legt er sich hin und schloss die Augen. Ein neuer Anfang in der Mitte seines Lebens, wenn es überhaupt die Mitte war ...
Er dachte an seine Studentenzeit in Graz. Als er eines Nachts wieder einmal in seinen unveröffentlichten Manuskripten blätterte, war er zur Überzeugung gelangt, dass er sie der Welt nicht länger vorenthalten konnte. Natürlich durfte sein erster journalistischer, nein, literarischer Auftritt nicht irgendwo stattfinden. Damals galt die von Henning Mertens in Berlin herausgegebene Pöbelpostille als linksintellektuelles Lustobjekt ohnegleichen. Daniel Käfer gab also am nächsten Morgen seine Texte, begleitet von einem selbstbewussten Brief, zur Post. Einige Tage später berichtete seine Zimmervermieterin, dass ein Herr Mertens angerufen hätte, ein merkwürdiger Mensch mit einer verbesserungswürdigen Ausdrucksweise. Käfer rief zurück. Nach einigen Versuchen erreichte er den damals bereits berühmten Publizisten, hörte dessen Stimme, die er von Radio-Interviews kannte. "Sie haben mir Texte geschickt. Was soll ich mit dem Zeug?"
"Ich dachte, na ja, ich ..."
"So, Sie dachten." Mertens schwieg unerträglich lange. Dann hörte Käfer ein Lachen. So hatten vermutlich römische Imperatoren gelacht, bevor sie den Daumen nach unten kippten. "Ich stelle Ihnen eine unlösbare Aufgabe, junger Freund. Wenn Sie so gut sind, wie Sie glauben, können Sie dennoch nicht dran scheitern.  Der Muttertag kommt immer so plötzlich. Schreiben Sie doch ein hübsches, kleines Feuilleton zum Thema und geben Sie es morgen früh zur Post. Wer nicht auch unter Druck gut ist, ist nie gut."
Der junge Daniel Käfer erzählte seiner Zimmervermieterin, dass er den Durchbruch geschafft habe, dann erzählte er es halb Graz. Am späten Abend fand er sich euphorisch und nicht mehr ganz nüchtern in einem schäbigen Kaffee am Griesplatz wieder und geriet an einen Zuhälter, der eigentlich gerne Lyriker geworden wäre. Gemeinsam zogen sie weiter, bis Käfer dann doch unsicheren Schrittes sein Zimmer erreichte. Er kochte Kaffe, setzte sich zur Schreibmaschine, warf den Kopf in den Nacken, schloss kurz die Augen und schrieb dann, von unirdischer Leichtigkeit umweht und von dunkler Klarheit durchdrungen. Am frühen Morgen wurde er von argen Kopfschmerzen aufgeweckt, spülte Aspirin mit Bier hinunter und griff zu seinem nächtlichen Manuskript: Grandios, in der Tat!
Von da an kaufte er die Pöbelpostille Woche um Woche am Tag des Erscheinens, blätterte leichthin, doch mit bebender Hand darin und hoffte auf die nächste Ausgabe - so lange bis der Muttertag vorüber war. Er rief Mertens an, immer wieder, erreichte ihn nicht, wurde vertröstet. Endlich war es so weit. Ob er denn das Manuskript nicht erhalten habe?
Wieder dieses Lachen. "Doch junger Freund. Ich habe es gelesen. Atemberaubend."
"Wirklich?"
"Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass man sich so unsäglich peinlich ransülzen kann. Wohl besoffen gewesen, Oberkante Unterkiefer?" Und wieder dieses bösartige Schweigen. Doch dann: "Unfähig sind Sie aber nicht. Bleiben Sie dran. Und Tschüss."
Von einigen Telefongesprächen abgesehen hatte Käfer mit Mertens nie persönlich Kontakt gehabt, verfolgte aber mit Interesse dessen schwindelerregende Karriere. Dann aber gab es dieses Verfahren wegen Kokainmissbrauchs. Mertens fiel später nur noch durch mehr oder weniger originelle Skandale auf. Einmal hatte er Käfer in der Redaktion der IQ angerufen. "Sie sind jetzt ganz oben, junger Freund. Ich warte auf Sie. Ganz unten."


Die Schattenuhr

"So, da sind wir." Gerd schaute zu den gelb leuchtenden Fenstern des Schönberghauses hinüber. "Dort geht jetzt der Hüttenzauber an. Wir werden es stiller haben. Zum Höhleneingang ist es kaum eine Viertelstunde. Ich geh voran und beleuchte den Weg. Sei vorsichtig."
Käfer ging erst ein wenig unsicher, dann gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er löste den Blick vom Boden und sah tief unten winzige Lichter. Gerd blieb stehen und hob den Kopf. "Schau dir einmal diesen Sternenhimmel an, Daniel. Direkt ehrfürchtig könnte man werden."
"Ja."
Käfer blieb einen Augenblick stehen. Die Luft war scharf und herb. Er nahm sich vor, in Zukunft wieder öfter im Gebirge zu wandern. Weiß Gott, es gab Schöneres als Geld zu verdienen und sich damit gesellschaftlich wichtig zu machen.
Das Geräusch der Schritte gab der Stille hier oben einen steten, bedächtigen Rhythmus. Was für ein Tag und was für eine Nacht ... Unversehens war Käfer auf seinem Weg zurück in den Berufsalltag in eine bislang verborgen gebliebene Gegenwelt geraten.
"So. Der Höhleneingang!" Gamsjäger richtete den Strahl der Taschenlampe auf ein massives Tor, sperrte auf und ging zu einem Schaltkasten. "Ich mache erst einmal Licht, Daniel, damit du die Höhle als Ganzes kennen lernst. Darf ich bitten?"
Er ging voran und blieb wenig später in einer Tropfsteinhöhle stehen. "Eis gibt es erst tiefer im Inneren des Berges. Dort aber jede Menge und in einer wunderbaren Vielfalt der Formen. 1910 ist dieses Höhlensystem entdeckt worden. In den folgenden Jahren wurde es gründlich erforscht und erschlossen. Fantasievolle Burschen, die Herren Entdecker, und nicht nur im Berg, sondern auch in der deutschen Sagenwelt zuhause. War ja groß in Mode damals. Darum gibt es hier unten einen Palast der Königin Kondwiramur, je einen prächtig ausgestatteten Eisdom für König Artus, Parzival und Tristan und so weiter. Doch was rede ich. Man folge mir und man staune."
Fast eine Stunde durchschritten die beiden eine vielfarbig schimmernde Zauberwelt. Türme, Wälle und Zinnen aus Eis fügten sich zu immer wieder neuen Bildern. Eis, nach oben strebend oder nach unten wachsend, verband sich da und dort zu Säulenreihen oder filigranen Vorhängen.
Gerd Gamsjäger war stehengeblieben. "Die Beleuchtung ist übrigens einfarbig. Gelb, Grün, Blau und all die Zwischentöne entstehen durch die unterschiedliche Stärke und Dichte des Eises. Und jetzt, mein Lieber, wollen wir uns an den Ort der Handlung begeben."
Im Tristandom angekommen schaute er sich suchend um. "Hier ist ein recht ebenes Stück nackter Fels.“ Er stellte die Batterielampe vor sich auf den Boden. „Ich werde jetzt die große Beleuchtung abschalten. Die Kinder haben schließlich auch nur das Licht der Sterne gehabt.“
Dann saßen die Beiden einander gegenüber, das kleine Licht dazwischen.
"Direkt komfortabel, Daniel, was sagst Du?"
"Aber ja. Jedenfalls ist mir so ein Hotelzimmer noch nicht untergekommen. Das nenn ich eiskalten Luxus."
"Dazu gehört natürlich auch die entsprechende Verpflegung. Hier, greif zu mein Freund, es ist ausnahmsweise gratis. Darf's eine literarische Beilage sein?" Gamsjäger schlug das mitgebrachte Buch auf. Die Kinder gingen in den Graben fort und gingen in das Gewölbe hinein. Es war ganz trocken und unter ihren Füssen hatten sie glattes Eis. In der ganzen Höhlung aber war es blau, so blau wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt ... Schön, wie? Was hat dich übrigens gestört, als du dieses Buch bei mir gesehen hast?"
"Mein Unbehagen hat einen Namen, Gerd. Eustach Schiller. Dieser Herr hat vor ein paar Wochen aus Stifters Nachsommer zitiert und in der Folge einiges Unheil angerichtet."
"So ein kleiner, dicker, altmodisch gekleideter Mensch? Der ist häufig in Hallstatt zu sehen in letzter Zeit."
"Hat er ein neues Objekt der Begierde im Auge?"
"Es wird geredet. Am Ufer, dem Ort gegenüber, steht das Schloss Grub."
"Kenn ich. Ein märchenhaftes Anwesen."
"Mit einer mehr als turbulenten Geschichte. Im 17. Jahrhundert ist dort noch das Gut Grub gestanden. Der Ischler Salinenverweser Christoph Eyssl von Eysselberg hat sich dort niedergelassen, ein Säufer und Schurke zum Fürchten. In einem Wutanfall soll er sogar ein Kind gegen die Mauer geschleudert haben. Die Blutspuren dieser Greueltat sind angeblich noch lange sichtbar gewesen. Im 19. Jahrhundert hat dann die Frau eines russischen Diplomaten das Gut nach ihren romantischen Vorstellungen umbauen lassen. Seitdem geben sich dort Spekulanten, verträumte Investoren und verkrachte Existenzen die Tür in die Hand. Sieht fast so aus, als gäb's bald wieder einen neuen Eigentümer."
"Nicht meine Sorge. Sag einmal, Gerd, wie willst du denn deine literaturbegeisterten Höhlengänger unterhalten, die Nacht über?"
"Ich weiß noch nicht so recht. Natürlich werde ich von Stifter und dem Hintergrund der Erzählung reden und ein paar passende Stellen vorlesen. Ich habe auch schon an den Einsatz von Projektionen und Toneffekten gedacht. Immerhin überleben die Kinder letztlich nur, weil sie das schreckliche Geräusch von berstendem Eis wach hält."
"Kitsch sollt es halt keiner werden ..."
"Alles, nur das nicht. Ich will auch vermitteln, wie es ist, Kälte und Ausgesetztheit im Berg zu ertragen, auch ein wenig Hunger. Und wenn die Zeit bis zum Morgen lang und länger wird: Das gehört dazu. Um so fröhlicher möchte ich dann das gute Ende vor dem Höhleneingang inszenieren."
"Ob du das alles bei den Behörden durchbringst? Ich meine von wegen Sicherheit und so ..."
"Es wird bestimmt beschwerlicher werden als unsere Nacht heute. Sei's drum. Müde, Daniel?"
"Ja, schon. Der Tag heute hat mich ganz schön gefordert."
"Nur wer an seine Grenzen geht, findet auch seine Mitte. Ist übrigens von mir."
"Toll. Kompliment."
"Magst Kaffeesud haben? Extra stark, extra bitter!"
"Her damit."
"Das hätte die tapfere kleine Sanna aber anders gesagt."
"Ich bin nicht tapfer und klein bin ich erst recht nicht."
"Stimmt schon. Wir wollen das Stifter-Theater nicht übertreiben. Außerdem, ob tapfer oder nicht, du warst wenigstens beruflich erfolgreich, Daniel. Kannst von der Abfertigung wahrscheinlich bis ans Ende deiner Tage leben. Ich bin nur originell.
Und hast jede Menge Spaß daran. Wenn das nicht mehr zählt als ein dickes Konto ..."
"Zugegeben. Aber nicht selten wird's ziemlich knapp. Was glaubst du, warum wir für jeden Scheißdreck Geld von dir verlangen?"
"Ich bekomm ja was dafür."
"Na klar. Anständig habgierig ist die Devise. Aber schön wär's schon, einfach sagen zu können: Du bist mein Gast, Daniel, bleib so lange du magst."
"Kommt vielleicht noch." Käfer stand auf und ging ein paar Schritte, um sich zu wärmen. "Und wenn wir schon von Erfolg reden. Dir nimmt kein Konzern dein Lebenswerk aus der Hand und schmeißt es auf den Mist."
Käfer schaute um sich. Im schwachen Licht von Gerds Batterielampe war nur noch ein wild wucherndes Gewirr bizarrer Formen zu sehen, das in weiterer Entfernung mit der Dunkelheit verschmolz. Es gab keine Grenzen mehr, diese Welt aus Eis wuchs über sich hinaus. Käfer fror nicht, doch er spürte, wie die Bilder rings um ihn allmählich auch in ihm waren, dieses frostige, unendlich langsame Wachsen und sich Verändern. Dann hörte er Gerds Stimme. "Und meiner Mutter würde ich wünschen, ein angenehmeres Leben zu führen. Die Rente nach meinem Vater ist lächerlich klein. Und ich kann die Gute auch nicht wirklich unterstützen."
"Dein Vater?"
"Knappe, Wilddieb, Kletterer, Frauenheld. Eines Tages ist er aus der Wand gefallen. Und auf eine zweite Ehe hat die Mutter dankend verzichtet."
"Und du, Gerd? Dir müssen die Weiber doch in hellen Scharen nachlaufen."
"Halb so schlimm. Außerdem ... das Schilehrer-Bergführer-Syndrom. Im Bett hast du sie bald einmal. Aber als Familienvater sieht dich keine. Irgendwie auch zu Recht übrigens. Wie steht's denn mit dir, wenn's überhaupt noch steht?"
"Frechdachs. Da gibt es die Sabine, ohne die ich schlichtweg vor die Hunde ginge."
"Klingt ziemlich unerotisch. Was ist mit der Anna?"
"Hat sie von mir erzählt? Inzwischen bin ich nicht einmal mehr ganz sicher, ob da was war."
"Soll ich sie fragen, bei Gelegenheit?"
"Untersteh dich!"
"Wie du meinst Daniel. Wie spät ist es eigentlich? Ich mag keine Uhren, mit einer Ausnahme."
"Gegen drei Uhr früh. Die Ausnahme?"
"Eine Sonnenuhr an unserer Hausmauer, ich zeig sie dir morgen. Die ist an einer Stelle angebracht, wo an 365 Tagen im Jahre garantiert kein Sonnenstrahl hinkommt, eine Schattenuhr, sozusagen."
"Und was gefällt dir daran?"
"Ein Zeitmesser, der sich der Zeit verweigert. Ist das nichts?"
"Doch. Hat was."
Jetzt war auch Gerd aufgestanden und wandte sich lächelnd einem fiktiven Publikum zu.
"Nun ist der unterhaltsame Teil unserer Reise durch die Nacht so ziemlich vorbei. Irgendwann zeigen die dunklen Dämonen ihre Fratzen. Nur jetzt nicht einschlafen, sonst gewinnen sie ihr eiskaltes Spiel  ... nicht einschlafen, sagt bei Stifter der Bub Konrad zu seiner Schwester Sanna. Denn weißt du, wie der Vater gesagt hat, wenn man im Gebirge schläft, muss man erfrieren, so wie der alte Eschenjäger auch geschlafen hat und vier Monate tot auf dem Steine gesessen ist, ohne dass jemand gewusst hatte, wo er sei."
Käfer klatschte leise Applaus. "Gute Dramaturgie. Und wie geht's weiter, Gerd?
"Jetzt werden wir Zwei damit aufhören, uns die Zeit zu vertreiben. Wir werden schweigen, frösteln, der Stille zuhören und den Tropfen, die in sie fallen. Wir werden es lernen müssen, Eintönigkeit und Langeweile zu ertragen - und dabei nicht einzuschlafen, bis uns der Morgen rettet." 
Sie saßen dann einfach da, jeder in seinen Gedanken verfangen. Manchmal fühlte sich Käfer großartig, dann lächerlich, dann nur noch leer und müde.
Allmählich wurde er gleichgültig. Eine seltsam starre Ruhe kam über ihn. Dann hörte er Gerds Stimme. "Wie spät, Daniel?"
"Gegen sieben Uhr."
"Gratuliere, das Leben hat uns wieder! Ich darf bitten ... Der Sonnenaufgang!"
Gerd Gamsjäger schaltete die Beleuchtung ein. Mit einem Mal wich die Geisterwelt der Nacht einer überschwänglichen Fülle an kostbarer Schönheit. Käfer stand auf, reckte und streckte sich. "Gestern war ich ein Vogel. Heute bin ich König. Und was kommt demnächst?“


Aus dem Kinderbuch: "Bohumil Blubb und die Wächter der Wasserwelt".

Unter Fischen

Nasser Regen, nasser Fluss, und ein Wassermann, ein nasser. Bohumil Blubb liegt auf dem Rücken und lässt sich treiben. Unter Wasser schwimmt er. Nur seine dicke Nase und seine dicken Zehen ragen in die Luft. Er mag es, wenn ihn der Regen kitzelt, stundenlang mag er das, tagelang und nächtelang. Seit mehr als einer Woche regnet es. Die Strömung trägt Bohumil Blubb mit sich weiter. Er sieht nur den Regenhimmel. Wolken ziehen träge dahin. Nur selten malt die Sonne einen hellen Fleck ins Grau. Die Ufer sieht er nicht, der Wassermann. Dort ist die Erde unter den Wiesen, Äckern und Wäldern voll mit Regenwasser. Was nicht versickern kann, rinnt in den Fluss. In den dunklen Tiefen der Berge füllen sich die Höhlen. Bald werden sie überlaufen. Dann werden die Wildbäche noch wilder. In den Dörfern machen die Bauern besorgte Gesichter, weil sie Angst um die Ernte haben. In den Städten schauen die Leute scheu von den Brücken, unter denen es immer bedrohlicher fließt und schwappt und gurgelt.
Bohumil Blubb kümmert das nicht. Für einen Wassermann kann es gar nicht genug Wasser geben.
Regentropfenkitzel und Wasserreisen sind sein Zeitvertreib. Und er hat viel Zeit zu vertreiben. Eine halbe Ewigkeit ist er alt und immer noch in den besten Jahren.
Und weil er schon so halb ewig lang lebt, hat er viele Erinnerungen, ziemlich verschwommen und verwässert allerdings mit den Jahren. Schon sehr lange hat Bohumil Blubb keinen anderen Wassermann mehr getroffen und schon gar keine Wasserfrau. Weil es niemanden gibt, mit dem er blubbern könnte, blubbert er mit sich selber, nur um es nicht zu verlernen. Seine Blubbersprechblasen steigen auf und zerplatzen in der Luft. Niemand hört sie. Oft kann sie auch niemand hören, weil sie mit Gedanken angefüllt sind, oder mit Träumen. Bohumil Blubb schließt die Augen, weil er schlafen möchte und träumen. Aber da ist was in seinen Ohren. Ein dumpfes Dröhnen hört er, ein mächtiges Rauschen. Er spürt wie das Wasser wirbelt und vibriert und weiß, dass ein großes Schiff kommt.
Er taucht und schwimmt zum Ufer, weil dort die großen Schiffe nicht fahren. Schiffe mag er nicht besonders, aber sie machen Wellen in denen Bohumil Blubb schaukeln kann, und Wellen mag er. Er schaukelt und schaukelt und erschrickt. Da ist etwas unter ihm. Da hebt ihn etwas hoch, das zieht in etwas in die Luft. Da ist ein Netz, ein Fischernetz.
Das Netz hängt an einem Seil, das Seil läuft über eine Rolle an einem hölzernen Balken. Zwei Männer ziehen am Seil und fluchen, weil das Netz so schwer ist. Sie ziehen es zu sich und lassen es auf die Planken einen kleinen Schiffes fallen. Bohumil Blubb gibt keinen Laut von sich, obwohl ihm der Aufprall weh tut. Die Männer findet er hässlich, ihre kurzen Haare, die kleinen, kalten Augen und die dicken, weißlichen Körper.
„Schnell,“ schreit der eine, „schlag es tot, bevor es uns was tut.“
Der andere nimmt einen Prügel, holt aus, und lässt ihn dann sinken. „Und was ist, wenn wir das Monster an den Zirkus verkaufen, oder an den Zoo?“
„Für ganz viel Geld, meinst du? Für richtig viel Geld?“
„Ja! Und vielleicht kommen wir auch noch ins Fernsehen, mit dem da.“ Einer der Männer stößt Bohumil Blubb mit dem Fuß an. „In den Behälter mit ihm, zu den gefangenen Fischen! Dann sehen wir weiter.“
Der Behälter ist ein großer Bretterverschlag, der Wasser durch strömen lässt, aber den Weg in die Freiheit versperrt. Bohumil Blubb sieht einen Karpfen, einen Wels und einen Huchen, der fast so groß ist wie er. „Grüß euch!“ Blubbert er freundlich. Die Fische glotzen und schweigen. Blubb weiß, dass sie reden können. Nicht mit Wörtern, aber mit Flossen, Kiemen und den Bewegungen ihrer Körper. Er weiß auch, dass ihn die Fische nicht mögen, weil er ein wenig wie ein Mensch ausschaut, wenn nicht gar wie ein Fischer. Der Wassermann schaut sich um und sieht, dass die Klappe an der oberen Seite des Behälters nur mit einem einfachen Riegel verschlossen ist. Er greift zwischen zwei Brettern durch und öffnet den Verschluss. Dann drückt er sich in eine Ecke, damit die Fische vor ihm in die Freiheit schwimmen können. Er folgt ihnen. Die Fische drehen sich nicht zu ihm um und suchen das Weite.
Blubb wundert sich, dass er vorhin auch an Land atmen konnte. Jetzt erinnert er sich wieder an die Worte seines Vaters. „Du hast besondere Fähigkeiten, mein kleiner Bohumil, hatte er geheimnisvoll geraunt, „du wirst einmal Großes damit bewirken können!“ Dann war der Vater zu einer weiten Reise aufgebrochen, von der er nicht wiederkehrte. Boleslaw Blubb, der große Wasservagabund ... er hatte auf Island mit Geysiren getanzt, war mit einem Wasserflohzirkus durch den Tschad See getingelt und an den Quellen des Nil gewann er das Herz eines wunderschönen Wasserfräuleins, seiner späteren Wasserfrau. Eva Blubbova, die viel gerühmte Sängerin ... ihre Stimme war mächtiger als die Meeresbrandung, lieblicher als Bachgemurmel und so schön wie ein Sonnenstrahl, der ins Wasser taucht.
Bohumil Blubb blubbert eine kleine Melodie und steuert einen Seitenarm des Flusses an. So gelangt er in einen prächtig überfluteten Auwald, treibt zwischen zwei umgestürzte Baumstämme, dreht sich ein wenig und liegt dann still im seichten Wasser.


Aus dem Kunstprojekt: "Warteschleife".

Zwischenwelten

Er wachte auf an einem seltsamen Morgen und war allein in einer weißen Welt. Da war noch nichts: Kein Beistrich, kein Fettfleck, kein roter Punkt. Nichts war zu lesen, schwarz
auf weiß, nichts getraute sich auch nur den kleinsten Schatten zu werfen, nichts wagte, Farbe zu bekennen.
Er tastete nach den Grenzen. Sie waren überall und er konnte sie nicht finden.
Er suchte nach den Träumen der vergangenen Nacht: weißer Staub.
Er lauschte den bunt gefiederten Worten von gestern Abend nach: weiße Vögel, stumm im erloschenen Wind.
Er ging ein paar Schritte: um sich herum, hinter sich her, ins sich zurück. Er redete ein wenig. Ober das Schweigen, über die Spanne zwischen zwei Wörtern, über das Verstummen.
Dann kam eine Stubenfliege, die von all dem nichts wissen konnte, verdaute mit Behagen und hinterließ nach einem Weilchen einen kleinen, schwarzen Punkt.
Die Blaue Blume wuchs daraus, der Baum der Erkenntnis und ein
Grashalm, fast schon eine Wiese. Die tiefen Wälder ragten hoch, ein Regenschirm fiel aus allen Wolken und ein buntes Fräulein schlug die Flügel.
Und er rieb sich die weiße Welt aus den Augen, kniff einer dicken Traurigkeit ins Hinterteil und strich sich ein rotes Marmeladebrot.

Hugo ist Hallenwärter. Ein wenig schäbig der gute Mann, aber das stört nicht, denn seine Halle ist es auch. Viel Eisen, viel Glas dazwischen und eine dick aufgetragene Vergangenheit: die Halle diente dereinst den schönen und vor Allem käuflichen Künsten.
Hugos Kopf ist noch voll von Gemälden allerersten Ranges: rosig nackte Weiber sprengen beinahe die goldenen Rahmen ob ihrer Fülle, kunstvoll gemalte Matterhörner jagen ihm hochalpines Frösteln über die Haut, Hirsche röhrten auf deko-rativen Erhebungen, wilde Schimmel baden im Mondenschein und ein schwarz gelockter Zigeunerknabe griff mit bräunlicher Hand nach den Cymbal, weil der Künstler keine Fidel malen wollte. Hugos Kopf ist voll, noch immer, die Halle ist leer, schon lange. Ein Mäusefamilie lebt darin, ein seltsames Schweigen, kostbar wie goldener Staub, ein paar Schwalben, ~`
eine introvertierte Ratte und Hugo, wie gesagt Jeden Morgen sperrt er die Halle auf und jeden Abend sperrt er sie zu, denn Ordnung muss sein. ~!
Dann sitzt er in seinem gelb erleuchteten Nest, oben, unter dem Dach, teilt die Käsesemmel mit den Mäusen, plaudert ein wenig mit dem Schweigen und geht endlich zu Bett. Morgen hat er ja wieder seine Pflicht zu tun. ~ :~.
Es ist eine städtische Halle. Und Hugo ist ein städtischer Hallenwärter.
Gestern haben sie entdeckt, dass es ihn gibt. Und schlimmer noch: dass er Gehalt bezieht.
Jetzt wird die Halle demoliert und Hugo wird abgerissen.

Gestern noch hat die Brücke von Ufer zu Ufer geführt. Heute sind ihre Enden vom Nebel weggewischt und nur ein krummer Brückenrücken schaut hervor. Mag sein, der kummervolle Jüngling N. steht dort. Er will nicht mehr, als endlich nichts mehr zu wollen, weil er es ja doch nicht bekommen kann. Er bindet sich steinschwere Gedanken um den Hals und lässt sich fallen. Ein Engel, auch im Fallen, packt ihn dann am Kragen, liest ihm die himmlischen Leviten und macht ihm die Hölle heiß, bis ihm Hören und Sterben vergeht.
Oder ein Fräulein schaut den Lichtern zu, die träge im Wasser des Flusses tanzen, tief unten. Hol sie mir, sagt sie zu ihrem Begleiter und streicht über seinen starken Arm.
Ich kann nicht. Sagt er und sie und verlässt ihn auf der Stelle.
Mag sein, einer packt seinen Kummer in ein Spinnenetz, um alles von sich zu werfen. He da, Ruft dann ein Fischer, sie haben etwas verloren, sie sollen es wieder- haben.
Gestern hat die Brücke noch von Ufer zu Ufer geführt.
Getrost. Morgen tut sie´s wieder. : ~

Die Straßenlaterne hat ein kleines, gelbes Loch in die Nacht gefressen, fast schon zu hell für eine Straße die besser im Dunkeln bleibt.
Sonst müsste man ja sehen, dass sie nichts an ihren Enden hat und nichts an ihren Rändern. Oder doch: Eine Müllhalde liegt da und kann nicht schlafen, zuckt auf, mit kleinen, trüben Flammen, Rauch hängt in den Büschen und die Schatten atmen schwer.
Ein Wegweiser: Nirgendwohin. Ein Verkehrsschild: Halteverbot. Hier hält keiner.
Das ist die Straße der Feldherren: Sie gehen bis Kilometer einhundertsieben, grüßen salutierend tote Helden und ihr Rückzug ist geordnet.
Es ist die Straße der Könige: Sie lassen ihre Equipage anhalten, verrichten ihr Geschäft und fahren heim ins Reich.
Es ist die Straße der Bürger: Pfui Teufel. Sagen sie. Wie schmutzig! Und Gott, wie hässlich! Und freuen sich, dass sie keins von beiden sind.
Später, wenn alle gegangen sind, steht eine Traurigkeit auf, streicht verlegen übers Kleid und wartet, wartet auf Herrn von K. der jeden Abend kommt.
Schritt für Schritt und Traum für Traum geht er seinen Weg. Im Lack der schwarzen Schuhe spiegelt sich der Mond und auf dem Ring an seiner rechten Hand brennt blaues Feuer.
Darf ich bitten? Fragt Herr von K. und sie nickt und die beiden tanzen zwischen den Enden

Zwischenwelten sind flüchtige Schatten vergangener Konturen und künftiger Gestalt. Zwischenwelten sind Puffer im Raster der Nutzanwendung. Zwischenwelten ergeben sich irgendwie, fügen Unpassendes aneinander, füllen die Zeit am Ende der Pendelschwünge.


Die Villen der Frau Hürsch

„Darjeeling, second flush. Recht so?“
Daniel Käfer stand in der Küche seiner Münchner Wohnung und stellte zwei Teekannen bereit. Sabine Kremser musterte ihn Stirn runzelnd.
„Wie Du meinst. Also ich nehm einfach irgendwelche Teabags.“
„Ja, Du.“
Er wärmte die Kannen mit heißem Wasser, gab Teeblätter in eine der beiden und goss mit kochendem Wasser auf.
„Anregend oder beruhigend, Sabine?“
„Beruhigend.“
„Dann darf er also länger ziehen. Kandis?“
„Ja, meinetwegen.“
Sie schaute ihm ungeduldig zu, wie er bedächtig die Tassen vorbereitete.
„Also, wie geht das jetzt weiter mit dir, Daniel?“
Ja, was soll ich sagen? Ich bin ein freier Mensch. So frei, wie ich als kleiner Bub war, der davon träumen durfte, Lokomotivführer, Feuerwehrmann oder gar Pilot zu werden.“
„Du bist nicht frei. Du bist arbeitslos. Und keiner von deinen Kinderträumen hat sich erfüllt.“
„Ja, so gesehen habe ich heute sogar mehr von meiner Freiheit, ohne väterliche Autorität. Doch immerhin hab ich Publizistik studieren können. Auch nicht übel.“
„Du hast was aus dir gemacht, Daniel, alle Achtung. Der IQ war nicht irgendein Magazin. Aber jetzt lässt Du dich demontieren.“
„Ich demaskiere mich, Sabine, befreie mich von eingeübten Ritualen und diktierten Zwängen. Ich bin nur noch der, der ich bin.“
„Kenn ich von wo. Klingt ziemlich gestrig, so nach Selbstfindungsgruppe, entschuldige.“
„Also gut, anders herum. Lebensfreude. Ehrlich. Saftig. Gut. Lust auf neue Erfahrungen. Wo fass ich dich, unendliche Natur? Euch Brüste, wo?“
„Sei nicht albern. Du brauchst einen Job.“
„Ich habe Geld.“
„Hat sich noch nie bei Dir gehalten.“
„Bingo. Sollte es irgendwann eng werden, geh ich eben wieder in die Sklaverei.“
„As ob das so einfach wäre in Deinem Alter.“
„Also bitte! So jung war ich schon lange nicht mehr.“
„Du, Daniel ...“
„Ja? Augenblick: die fünf Minuten sind um.“
Käfer stand auf, goss den fertigen Tee durch ein Sieb in die zweite Kanne und füllte die Tassen. Er schnupperte an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, nippte.
„Sehr fein und charaktervoll, wirklich.“
„Mir fehlt im Moment die Sensibilität dafür.“
„Schade.“
„Was ich schon vorher sagen wollte, hörst Du also jetzt nach diesem sakrosankten Augenblick der Teewerdung: Ich liebe Dich, Daniel.“
Er ließ die Tasse sinken und stellte sie unsicher auf den Tisch.
„So etwas sagt man gewöhnlich doch nur am Anfang oder am Ende einer Geschichte.“
„Mal den Teufel nicht an die Wand. Ich möchte ganz konkret wissen, was Du vor hast in nächster Zeit, damit ich über Dich nachdenken kann, über mich und über uns beide.“
„Naja, der letzte IQ ist so gut wie fertig. Fehlt nur noch ein herzhafter Nachruf. Dann werde ich das Büro und die Wohnung in München räumen und erst einmal bei meinem Bruder in Graz unterschlüpfen. Dauerlösung ist das keine. Seine Frau ist ziemlich eigen. So in der Art: mit diesem Hemd geht mir unser Daniel aber nicht aus dem Haus. Hat er wenigstens saubere Unterwäsche an? Und Moment noch. Wir haben da was an der Nase ...“
„Da siehst Du wieder, was Du an mir hast. Und weiter?“
„Erst einmal abschalten. Weißt Du, Sabine, seit Tagen gehen mir die Sommerferien nicht aus dem Kopf, die ich als Kind im Salzkammergut verbracht habe. Eine traumschöne, wilde Zeit.“
„Salzkammergut? Irgendwo in Österreich, nicht wahr?“
„Ziemlich genau in der Mitte. Da gibt es das Ausseerland. Liegt in einem von Bergen umringten Talkessel – wie ein kuscheliges Nest.“
„Für seltsame Vögel deiner Art.“
„Ja. Mein Bruder ist übrigens dort ins Gymnasium gegangen.“
„Warum nicht in Graz?“
„Da ist er dreimal geflogen. Ungebührliches Betragen, unentschuldigtes Fernbleiben und dann hat er noch der Englischprofessorin einen unsittlichen Antrag gemacht.“
„Tüchtig, tüchtig. Und im Ausseerland?“
„Eine Privatschule. Da hat man alles nicht so eng gesehen. Die Schülerliste von damals liest sich heute übrigens zum guten Teil wie ein Who is Who der österreichischen Prominenz.“
„Und Du willst an dein Kinderglück anknüpfen, Daniel? Funktioniert selten, so etwas.“
„Ich möchte nichts aufwärmen. Nur neu anfangen. Am liebsten mit dir gemeinsam. Kommst Du mit, Sabine?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“
„Dir muss ich aber wirklich alles erklären. So lange es noch den IQ gegeben hat, warst Du für mich als Fotografin der wichtigste Auftraggeber. Gar nicht so einfach, was Neues aufzutun. Es gibt weltweit immer weniger gute Magazine, Bildbände verkaufen sich schlecht, und die Fotogalerien werden von Leuten dominiert, deren Genialität sich auf die Kunst der Selbstvermarktung beschränkt.“
Käfer starrte sie an.
„Sabine! Keinen Augenblick habe ich in den letzten Tagen daran gedacht, dass Du durch mich Probleme bekommst. Verdammt noch einmal! Und wenn ich ein paar Leute anrufe? Noch hab ich ja eine gewisse Position.“
„Das wirst Du schön bleiben lassen. Entweder geht´s ohne Deine Unterstützung oder es geht eben nicht.“
„Stimmt schon. - Wirst Du mich besuchen im Salzkammergut?“
„Vielleicht. Kommt darauf an.“
„Natürlich. Ich sag Dir dann, wo ich erreichbar bin.“
„Noch immer kein Handy?“
„Diese Geisel der Menschheit? Nein danke.“
„Und Auto hast Du ja auch keins. Du bist von gestern, Daniel.“
„Danke für´s Kompliment. Aber ich muss Dir widersprechen: In der Garage meines Bruders steht seit vielen Jahren ein sorgsam eingemotteter 2CV.“
„Eine Ente? Hör ich recht?“
„Ich habe es nie über´s Herz gebracht, mein Studentenauto wegzugeben. Und jetzt wird es mich wieder über die Lande tragen, es sei denn, widrige Winde hemmen den Lauf. 16 PS, liebe Sabine, damit sollte man haushalten ...“
„Du bist und bleibst ein Kindskopf, wenn auch ein lieber.“
„Man tut, was man kann.“

Your hair upon the pillow like a sleepy golden storm. Daniel Käfer hörte Leonard Cohen. Hey, thats no way to say goodbye. Im Ablagefach seiner Ente drehten sich die kleinen Spulen eines altmodischen Tonbandgerätes. Seine Reise folgte den Spuren von damals und das brachte einen Umweg mit sich. Die Fahrt war von Graz aus nämlich immer erst einmal nach Wien gegangen, weil die Eltern dort Herrn Hornacek abgeholt hatten, wirklicher Hofrat, und dem Vater beruflich wie auch freundschaftlich verbunden. In Aussee wohnte Herr Hornacek dann im Hotel „Kaiser von Österreich“ – Zimmer mit Bad. So hatte Vater einen Konversationspartner „auf adäquater Ebene“, wie er sich ausdrückte. Mit der einheimischen Bevölkerung suchte er keinen Kontakt. Nur mit dem Quartiergeber, dem Schulrat Köberl, spielte er Sonntag nachmittags Schach, nicht zuletzt deshalb, weil Köberl deutlich schwächer spielte, oder den Vater gewinnen ließ. Die Mutter hingegen hielt sich viel im Kurmittelhaus auf oder konsultierte Ärzte, ohne erkennbar leidend zu sein. „Frauensachen“ hatte der Vater einmal Schulter zuckend zu Daniel gesagt. Es kam selten vor, dass er auf diese Art mit seinem Sohn redete, von Mann zu Mann, sozusagen.

In Wien angekommen, hatte Daniel Käfer nichts weiter zu tun. Herr Hornacek war schon lange verstorben. Wiener Freunde oder Bekannte wollte Käfer auch nicht treffen, um sich lange Erzählungen und Erklärungen zu ersparen. Schon am Vormittag war er wieder unterwegs. Als er dann Lust darauf bekam, endlich wieder einmal Leonard Cohen zu hören, schaute er längst auf die Donau und die Rebenhänge der Wachau. Der kleine Motor blubberte und schnurrte, der Sommer drängte ins Auto, Käfer atmete tief.
Kurz vor dem Strudengau hatte der Vater immer bei der Donaurast gehalten, einem Fischlokal direkt am Ufer. Tatsächlich, da war es noch immer. Käfer ließ sich im schattigen Garten nieder, er tafelte fürstlich und beinahe grätenfrei.
Dann entschloss er sich unwillig für ein Stück Autobahn, um Zeit zu sparen. Er seufzte erleichtert, als die Abfahrt nach Gmunden erreicht war – und damit das Salzkammergut. Bei der nächsten Gelegenheit hielt er an, rollte das bisher halb geöffnete Dach ganz zurück und klappte das linke Seitenfenster hoch. Es war eine Lust zu leben, gar kein Zweifel.

Am späten Nachmittag erreichte er den Pötschenpass. Duldsam schaltete Käfer auf den zweiten Gang zurück, mehr war da nicht zu hoffen.
Der Vater hatte allerdings einen Opel Kapitän von gewaltigen Ausmaßen gefahren, der solche Steigungen ungleich kraftvoller bewältigte. Dennoch war Vaters Fahrstil stets dem Tempo seiner Amtsführung in der mittleren Hierarchie des Innenministeriums angepasst gewesen. Gerne zitierte er aus der Gebrauchsanweisung. Maßvolles Bremsen ehrt den Opel-Fahrer. Das Durchrasen von Kurven ist zu vermeiden. Vater hatte ein geradezu erotisches Verhältnis zu Gesetzen, Vorschriften und Anleitungen aller Art. Der kleine Daniel fand das ziemlich blöd, sagte es aber nicht. Es gab ja kaum Probleme mit den Eltern, so lange er gute Noten im Zeugnis hatte. Wozu also den Frieden stören. Und in den Ferien wer er ohnehin fast immer sich selbst überlassen.

Die Passhöhe. Das alte hölzerne Wirtshaus stand wie damals am Straßenrand, ein paar Sonnenschirme auf der kleinen Terrasse davor. Käfer war zu ungeduldig, um anzuhalten. Er legte den dritten Gang ein, dann den vierten, gönnte sich kurzfristig die Frechheit, die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu übertreten und ging wieder in genießerisches Gleiten über. Schon erkannte er die Silhouetten vertrauter Berge, auch die Namen hatte er nicht vergessen: Sandling, Loser, Sarstein. Dann öffnete sich der Blick auf den Talkessel des Ausseerlandes und Käfer kam es so vor, als wäre er nie fort gewesen.
Wie auch immer: heute war es zu spät für ein gründliches Wiedersehen. Er war hungrig und hatte obendrein noch kein Quartier für die Nacht. Ob es dieses Ausflugswirtshaus in Lerchenreith noch gab? Zum Ech – seltsamer Name. Er hatte seinen Spielgefährten, den Toni einmal gefragt, wer oder was denn das sei, ein „Ech“.
„Ein Ech ist halt echig“, war die Antwort.
„Und was ist dann echig?“
„Das weiß jeder und kann keiner sagen.“

Noch vor der Ortstafel bog Käfer in eine Seitenstrasse ab, an die er sich zu erinnern glaubte. Ja doch, das konnte stimmen. Und jetzt die verbotene Abkürzung, die sich der Vater nie erlaubt hätte: ein kleines Stück gegen die Einbahn. Da war das Wirtshaus auch schon, Licht in den Fenstern, die Tür offen. Käfer trat ein. Drei kleine Stuben, in einer die hölzerne Schank, alles wie damals. Er hätte schwören können, dass die Männer am Stammtisch jene waren, die er schon als Kind hier sitzen gesehen hatte. Unsinn. Auch der Wirt war natürlich ein anderer, ein schlanker Mann mittleren Alters mit sorgsam gestutztem Vollbart. Käfer nahm Platz, der Wirt trat näher, grüßte knapp und blieb schweigend stehen.

„Kann ich bitte ein großes Bier haben? Und der Hunger bringt mich um.“
„Das ist schlecht. Die Köchin hat heute frei. Aber ich frag die Großmutter.“
„Ja, und noch was. Wissen Sie, wo ich ein Zimmer bekommen könnte, wenn möglich privat?“
„Eins nach dem andern.“
„Essen will er?“ Die Stimme kam offenbar von der Küchentür her. Dann erblickte Käfer eine alte Frau, die sich langsam seinem Tisch näherte, einen Sessel zurecht rückte und Platz nahm.
„Hausgemachte Blutwurst mit gerösteten Erdäpfeln?“
„Perfekt.“ Der Gast lehnte sich entspannt zurück. „Wissen Sie, dass ich vor über dreißig Jahren auch schon einmal hier gesessen bin?“
„Nein. Aber jetzt weiß ich’s. Wie schreibst Du dich denn?“
„Käfer.“
„Dann gar der Daniel?“
„Ja. Woher ...“
Käfer verstummte, als er sah, dass sie die Hand ausstreckte. Und er ließ es geschehen, dass sie sein Gesicht berührte.
„Dann sind die Gespenster doch noch lebendig.“
„Welche Gespenster?“
„Altweibergespenster, Daniel. Wer glaubt schon an so was? Und jetzt muss ich zum Herd.“

Aus dem Kinderbuch: "Flugs! Ein Spatz führt durch Wien".

Der Wiener Prater

Der Wurstelprater ist ein Rummelplatz mitten in der Stadt. Ringsherum sind die erwachsenen Menschen tüchtig und fleißig und rennen dem Geld nach. Im Wurstelprater sind sie lustig und ausgelassen und geben das Geld aus. Und die Kinder haben es erst recht spaßig hier, ganz ohne Schule und Hausaufgaben. Das ist ein Rutschen und Schaukeln und Wirbeln, dass einem Hören und Sehen vergeht! Da kann man sich so richtig wohlig gruseln in der Geisterbahn, sich in einem gläsernen Labyrinth verirren, mit kleinen Rennautos um die Wette fahren oder im Autodrom den Clown mit seiner roten Leuchtnase umrunden. Sogar eine richtige Dampfeisenbahn gibt es hier, sie ist zwar winzig klein, faucht und schnaubt und raucht und pfeift aber so gewaltig, als ging’s einmal rund um die Welt. Und ständig hat man Lautsprecherstimmen im Ohr: „Steigen Sie ein! Machen Sie mit! Das Schönste, das Aufregendste, was Sie je erlebt haben!“ Wer könnte da widerstehen? Das macht natürlich durstig und hungrig. Und wenn die Menschen so essen, fällt auch für Spatzen allerhand ab: Semmelkrümel und Langoskrümel, Kebabkrümel und Kuchenkrümel. Da kenn ich mich aus, weil wir Spatzen ja seit eh und je in vielen Ländern mitnaschen. In der Türkei zum Beispiel, wo die Kebabs zuhause sind, dicke, kräftig gewürzte Fleischspieße. Davon werden mit einem gefährlich scharfen Messer kleine Stücke abgeschnitten und ins Fladenbrot gefüllt. Meine ungarischen Spatzen-Verwandten sind Langos-Spezialisten. Ungeheuer viel Knoblauch gehört dazu und dünn und knusprig muss der Teig gebacken sein, damit es beim Essen so richtig schön bröselt.
Im Wurstelprater riecht es und schmeckt es nach vielen Ländern. Die Kaisersemmel gibt es hier natürlich auch, weil es immer noch ziemlich kaiserlich zugeht in Wien, obwohl es längst keinen Kaiser mehr gibt. Von den vielen Menschen, die im Wurstelprater ihren Spaß haben, denkt allerdings kaum einer daran, dass sich hier früher nur der Kaiser und sein Hofstaat vergnügen durften. Aber in Spatzenkreisen redet man heute noch davon, weil die Reitpferde und die Kutschenpferde der vornehmen Damen und Herren weniger vornehme Rossäpfel fallen ließen. Köstlich, köstlich, kann ich nur sagen!
Als dann vor über zweihundert Jahren der Prater endlich allen gehörte, ist es gleich einmal weniger vornehm zugegangen, aber um so lustiger. Andere wollten mit dem Vergnügen Geld verdienen, wie die Menschen eben so sind. In der Spatzenchronik sind alle aufgezeichnet, die von Anfang an dabei waren: Wirtsleute, Lebzelter – also Lebkuchenbäcker – Fleischselcher und so weiter. Lustig, diese altmodische Sprache damals. Der „Bradelpratter“ hat knoblauchduftenden Schweinsbraten aus dem Rohr gezogen und der „Kaßstecher“ würzige Käsestücke vom dicken Laib geschnitten. Der „Limonihandler“ bot Limonaden an und eine „Krapfenbacherin“ und ein „Chocolattenmacher“ sorgten für süße Näschereien. Wer es aber salzig lieber mochte, hielt sich an den „Sallat und Räthig Handler“ – mit „Räthig“ war damals Rettich gemeint.
Bald kamen Ringelspiele und Wurfbuden dazu. Der Wurstel, der Kasperl, hat dem Wurstelprater seinen Namen gegeben, und ein Kasperltheater gibt es noch heute, obwohl sich ringsum alles verändert. Jedes Jahr kommt etwas Neues dazu und jedes Jahr geht’s im Wurstelprater noch ein wenig lauter zu und leuchten die Farben noch greller. Aber es gibt auch stillere Plätze, die nicht weniger Spaß machen. Da sitzen Kinder in hölzernen Schwänen, die auf einem kleinen, künstlichen Bach durch einen verwunschenen Garten mit vielen Tieren schwimmen, da trägt ein altmodisches Flugzeug aus Blech die kleinen Piloten und Pilotinnen auf einer Schiene durch die Luft, und da gibt es ein altmodisches Ringelspiel, in dem echte Pferde bunte Kutschen ziehen. In der Mitte erklingt ein Orchestrion, das ist eine Maschine, die den Klang eines großen Orchesters nachahmt.
Im Wurstelprater ist alles möglich. Da dürfen sich große und kleine Menschen sogar wie wir Spatzen in die Lüfte erheben und auf das bunte Gewirr hinunterschauen: Das Riesenrad bringt dieses kleine Wunder zuwege. Über hundert Jahre ist das fast siebzig Meter hohe, eiserne Ungetüm alt. Von seinen Gondeln aus geht der Blick weit über den Prater und über die Stadt. Der hohe Turm des Stephansdoms, der in der Mitte von Wien steht, ist ganz nahe, und man sieht auch, wie auf einer Seite die Hügel des Wienerwaldes die Stadt umfangen und sich auf der anderen eine weite Ebene ausdehnt. Und noch etwas: Von hier oben bemerkt man erst, dass der Wurstelprater ja nur ein kleiner Teil des Praters ist. Den Buden folgen Bäume, Büsche und Wiesen, Spazierwege dazwischen. Der große Prater hat Platz für zwei Pferderennbahnen, wo es ganz schön aufregend zugehen kann, für ein Schwimmbad, das Stadionbad nämlich, für die Hallen des Messegeländes, wo mehrmals im Jahr Waren aus aller Welt angeboten werden – und wenn ein Zirkus in die Stadt kommt, schlägt er sein großes Zelt natürlich im Prater auf. Viele, viele Radfahrer gibt es hier, Spaziergänger und Hunde, die sich darüber freuen, dass sie endlich so richtig laufen und spielen dürfen.
Vor vielen Jahren, als die Donau noch viele Flussarme mit kleinen Inseln dazwischen hatte, war der Prater eine wild wuchernde Aulandschaft, in der Hirsche, Hasen, Wildschweine, Wölfe und Dachse lebten. Heute hat man das Grün fast überall ordentlich zurechtgestutzt, wie sich das eben so gehört mitten in der Stadt. Aber da und dort ist der Prater auch heute noch herrlich unordentlich, ein Abenteuerspielplatz, ein Urwald und ein Platz für heimliche Träume.


Polterabend. Das erste Kapitel.

Eiswein

Polt fror, hatte Kopfweh, und war guter Dinge. Sein Alltag war weit weg. Gendarmerie-Inspektor? Schon gut, irgendwann vielleicht wieder. In dieser mondhellen Winternacht tat er im Weingarten des Karl Fürnkranz seine Arbeit. Er dachte an den vergangenen Abend und bereute es keineswegs, mit Karin Walter eine Flasche Sekt geleert zu haben, weil ihm irgendwie feierlich zumute gewesen war. Trotz dicker Handschuhe spürte Polt das kalte Metall der Rebschere. Ein leises Schnappen war zu hören, wenn er die Trauben vom Stock trennte, hart wie Kieselsteine fielen die gefrorenen Beeren in die hölzerne Butte, die auf einem dreibeinigen Gestell stand, damit man sie leichter auf den Rücken nehmen konnte.
„So eine Lese ist was Besonderes“, hatte der Fürnkranz gesagt, „da will ich kein Plastik sehen.“
Gegen vier Uhr Früh waren sie ans Werk gegangen: Karl Fürnkranz, Simon Polt, Sepp Räuschl und Friedrich Kurzbacher. Die Männer bewegten sich langsam und konzentriert, ohne viel zu reden. War die Butte gefüllt, trug sie Polt als Jüngster in der Runde zu einem Traktoranhänger auf dem zwei Holzbottiche standen. Nach knappen zwei Stunden war einer davon randvoll. Simon Polt stellte seine Last ab und schaute sich um: Ein verschneiter Weingarten, in dem Nachts gearbeitet wurde ... die Szene hatte etwas Verschwörerisches. Drei Weinbauern standen ein paar Schritte von einander entfernt. Sie waren unterschiedlich groß, aber durch zahlreiche Schichten wärmender Kleidung annähernd gleich dick. Der Schnee zu ihren Füßen glitzerte, und der Mond über ihren Köpfen ließ das Licht der Sterne fast verschwinden.
Die Riede Sommerleiten bedeckte den Westhang eines kleinen, einschichtig gelegenen Tales dicht an der Grenze zu Tschechien. An ihrem oberen Ende stand eine Weingartenhütte, die dem Karl Fürnkranz gehörte. Tieferwärts, nach Süden zu, begleiteten die Rebenhügel das breite Wiesbachtal. Dort leuchteten die Straßenlampen der langgestreckten Dörfer, und an den Hängen waren die Lichterketten der Kellergassen zu sehen.
Polt gähnte. Er war lange bei Karin Walter geblieben. Von der Eisweinlese hatte er ihr nichts erzählt. Sie sollte glauben, daß er noch genug Schlaf bekommen konnte, in dieser Nacht.
„Aufwachen, Simon!“ Friedrich Kurzbachers Stimme war heiser. Er hatte gerade eine arge Verkühlung hinter sich gebracht. „Schlafen kannst nachher, im Dienst!“
„Das denkst du dir so.“ Polt nahm die Butte wieder auf den Rücken und ging zu den anderen.
„12 Grad Minus, so ist es recht!“ hatte der Fürnkranz befriedigt festgestellt, als er und seine Helfer nachts mit der Arbeit begannen. Seitdem zog sich ein schwerfälliges Ritual Stunde um Stunde hin. Die Weinbauern nahmen die Mühe mit selbstverständlicher Gelassenheit auf sich, und Polt bewunderte ihre zähe Ausdauer. Müde griff er wieder zur Rebschere und fragte sich, ob es denn wirklich eine gute Idee gewesen war, seine Hilfe anzubieten. Doch, ja, gab er sich stumm zur Antwort, eine sehr gute Idee sogar. Die vier hier im Weingarten taten etwas Besonderes, und es würde zu einem außergewöhnlichen Ergebnis führen. Den anderen im Tal fiel nichts Besseres ein, als zu schlafen. Polt lachte.
„Spinnst?“ Friedrich Kurzbacher warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, erwartete aber keine Antwort.
Gegen acht Uhr früh war die Arbeit beendet.
„Paßt.“ Karl Fürnkranz schaute zum anderen Talhang hinüber. Der Himmel war heller geworden, und die niedrigste Hügelkuppe hatte einen schmalen leuchtenden Rand.
„Bis die Sonne da ist, sind wir im Preßhaus. Los, aufsteigen!“
Fürnkranz startete den Traktor, die anderen setzten sich auf die Ladewände des Anhängers und hielten sich an den Bottichen fest.
Der schmale, leicht abschüssige Güterweg war eisglatt. Trotz der langsamen Fahrt war die Kälte jetzt noch mehr zu spüren. Die Männer schauten grimmig drein und schwiegen, bis ihr Ziel erreicht war.
Das Preßhaus war eines der größten in der Gegend und stand abseits der Burgheimer Kellergasse ganz für sich zwischen den Weingärten und den Äckern am Talgrund. Es war wohl auch älter als die anderen Gebäude, vielleicht Herrschaftsbesitz gewesen, dereinst. Jedenfalls waren sieben Generationen der Familie Fürnkranz als Eigentümer ausgewiesen.
Der Traktor kam hinter dem Preßhaus zu stehen. Etwa einen Meter unter der Dachtraufe klaffte eine annähernd quadratische Öffnung in der weißgekalkten Mauer, das Gaitsloch.
„Ich hab die Rutsche in den Preßkorb schon hergerichtet.“ Fürnkranz machte ein paar vorsichtige Schritte auf dem hartgefrorenen Boden. „Fangt ihr schon einmal mit dem Schaufeln an, ich geh voran ins Preßhaus.“
Die ersten Trauben polterten als Eisbrocken in die Tiefe.
Nach einer Weile war die Stimme des Weinbauern von unten zu hören. „Bin schon da, nur weiter, weiter, Leute, es muß rasch gehen!“
Und dann, vielleicht zehn Minuten später: „So, aufhören. Und hereinkommen!“
Als Polt und die Anderen eintraten, stand Fürnkranz oben neben dem Preßkorb und drückte mit einem großen hölzernen Stempel, dem Mostler, die Trauben zurecht. Vor der Presse stand ein großgewachsener Mann, der eine dicke Daunenjacke trug. Er schaute den Männern entgegen. „Guten Morgen, die Herrschaften, Max Wehdorn mein Name, Kellerei-Inspektor.“
Das Preßhaus war von einer elektrischen Arbeitsleuchte erhellt. Tageslicht fiel nur durch die offene Tür herein. Die kleinen Fensteröffnungen waren mit Brettern verschlossen. Eine große Baumpresse füllte gut die Hälfte des Raumes der Länge nach aus, rechts davor standen ineinander geschobene Bottiche und Arbeitsgerät, auf der anderen Seite ein Tisch mit einfachen Bänken und Sesseln. Unter dem Preßbalken führten wenige Stufen zur Kellertür hin.
Fürnkranz machte einen schwerfälligen Sprung auf den Ziegelboden „So. Jetzt wird´s spannend.“ Er hob ein kleines Gerät hoch. „Kennen Sie das, Herr Gendarm?“
„Wo ist ein Gendarm?“ Polt rieb sich die kalten Hände. „Aber auch so habe ich keine Ahnung.“
„Ein Refraktometer. Dient zur Bestimmung der Zuckergrade. Wenn der Riesling jetzt nicht dreißig, wenigstens achtundzwanzig Klosterneuburger Mostgrade hat, brauchen wir gar nicht anzufangen mit dem Pressen. Insgesamt müssen wir auf 25 Grad kommen, alles andere ist kein Eiswein.“
Polt war interessiert nähergetreten. „Ah ja. Und darum ist der Kellerei-Inspektor da.“
„Hat wie immer den Durchblick unser Herr Gendarm. Muß angemeldet werden, so eine Pressung. Davon einmal abgesehen, bin ich wahrscheinlich der Letzte, der es sich antut, dafür eine Baumpresse zu nehmen. Mit den modernen hydraulischen Maschinen geht alles viel einfacher. Aber für mich alten Sonderling ist das alles eben auch eine Zeremonie, wie vor dem Altar, nur heidnisch halt.“ Fürnkranz hatte sein Meßgerät weggelegt und griff jetzt nach einer kreisrunden Holzplatte. „Das ist die Dotschen, auch Gans sagen wir dazu. Kommt auf das Preßgut. Und diese Hölzer da kommen oben drauf, bis der Pressbalken aufliegt.“
„Mein Lieber!“ Polt betrachtete respektvoll den schweren Balken. „Wissen Sie, wie lang der Preßbalken ist, Herr Fürnkranz?“
„Ich hab einmal nachgemessen: Gute 14 Meter. Und wissen Sie, Herr Polt, wie man so ein Ungetüm auch noch nennt? Hengst! Unsere Altvorderen waren keine Unschuldslämmer und näher am Leben und am Tod als wir. Der Balken da war für sie nicht mehr und nicht weniger als ein unverschämtes Sinnbild für Manneskraft. Und was ist dann beim Pressen los? Den unschuldigen Trauben wird Gewalt angetan, bis der Saft rinnt. Und wer ist mittendrin? Die Bauern! So nennt man nämlich die Hölzer zwischen dem Pressbalken und dem Deckel auf den Trauben.“
Polt hörte fasziniert zu. Sepp Räuschl, ein gottesfürchtiger Mensch, wollte von all dem nichts wissen, war ein paar Schritte beiseite gegangen und schaute sich wie beiläufig im Preßhaus um, während der Kurzbacher nachdenklich eine einzelne Weinbeere in die Hand genommen hatte, die zu Boden gefallen war. Langsam taute sie auf und wurde weich. Fürnkranz beobachtete ihn. „Siehst Friedrich, genau das darf uns nicht passieren. Also probieren wir schnell einmal.“ Er griff zu einem schmalen Stück Holz, das etwa auf halber Höhe in einer Ausnehmung der Weinpresse steckte, und lockerte es ein wenig. Knarrend senkte sich ein Ende des Preßbalkens um wenige Zentimeter, ein leises Knirschen war zu hören, verstummte, als der Balken zur Ruhe kam. Es dauerte eine gute Weile bis unterhalb des Preßkorbes ein kleines, hellgrünes Rinnsal entstand . „Na also!“ Fürnkranz tupfte einen Tropfen auf das Meßfeld des Refraktometers und hielt es gegen das Licht. Mit einer raschen Bewegung wandte er sich seinen Helfern und dem Beamten zu. „Gewonnen! 31 Grad. Jetzt gehen wir´s richtig an.“ Er warf einen prüfenden Blick auf die Stellung des Preßbalkens.
„Ich hab nie so richtig begriffen, wie das alles funktioniert“, gab Polt zu.
Fürnkranz trat neben ihn. „Ist auch irgendwie kompliziert. Die ganze uralte Maschine ist ein riesiges Hebelwerk. Zwei Schwergewichte werden gegeneinander ausgespielt: Preßstein und Preßbalken.“ Er zog das vorhin gelockerte Holz völlig heraus. „Das ist ein Brustriegel. Damit kann ich die Hebelkraft steuern. Dorne gibt’s auch noch. Die verhindern, daß sich der Preßbalken wieder hebt. Beim Vorbereiten, gestern Abend, hab ich den Preßstein gedreht, damit den Balken auf der linken Seite niedergezwungen und auf der anderen Seite, über dem Preßkorb, gehoben. Dann war nur noch dafür zu sorgen, daß er oben bleibt. Heute geb ich ihm Stück für Stück die Freiheit wieder. Und die Trauben bekommen den Hengst zu spüren.“
Friedrich Kurzbacher hatte mit sichtlichem Respekt zugehört. „Ein richtiger Professor, der Karl. Ich weiß ja auch, wie´s geht, aber erklären könnt ich´s nicht. Ist ja egal. Da kommt er, der Most!“
Erst zögernd, dann stärker, sickerte der Traubensaft durch die Zwischenräume des Preßkorbes und bildete auf dem hölzernen Boden einen sachte bewegten Teich, der in vielen Grüntönen schimmerte. Da und dort bedeckten feine Bläschen die Oberfläche, hingezogen zu jener Öffnung, durch die der Most in einen Bottich unterhalb der Presse floß.
Das Preßhaus, noch vor kurzer Zeit ein kalter, unbelebter Raum, war nun erfüllt von Geräuschen und Gerüchen. Fürnkranz holte tief Atem. „Darauf kommt´s an im Leben.“
Die anderen schwiegen beifällig. Dann beugte sich Fürnkranz vor, um den Most näher zu betrachten, und stieß plötzlich einen Laut aus, der wie verhaltenes Knurren klang. „Da ... schaut´s her!“ Er zeigte auf eine Stelle dicht neben dem Rand des Preßkorbes, wo sich eine fremde Farbe ins Grün mischte.
Der Kurzbacher drängte sich neben ihn. „Hast vielleicht einen Rotweinstock dazwischen?“
„Nein.“
Polt schob die beiden zur Seite, tauchte seinen Finger in die Flüssigkeit, roch daran und wandte sich ab.
Karl Fürnkranz trat dich hinter ihn. „Das ist Blut, nicht wahr?“



Laguna. Das Resümee.

Ausklang

Nirgendwo ist die Verletzlichkeit Venedigs so intensiv spürbar wie in der Lagune. Nirgendwo fällt es so leicht, jenen zu glauben, die ans Abschiednehmen denken: Venedig, das Atlantis des 21. Jahrhunderts. Aber diese Welt im labilen Gleichgewicht stirbt schon sehr lange, das läßt immerhin auf eine reiche Erfahrung im Umgang mit dem Untergang schließen. Wer Venedig im Spiegel der Lagune betrachtet, hat nicht die trügerische Sicherheit gepflasterter Plätze und steinernen Mauern. Hier liegt der Boden, auf dem Venedig steht, in den es sinkt, offen da, eine formlose Masse von Sand und Schlamm die einmal auftaucht, ein andermal verschwindet. Hier ist das Wasser, das Venedig umgibt, ungezähmt, eine nasse Wüste dicht über Grund, grau und krank, gleichzeitig verwirrend schön.
Das Leben auf den Inseln in der Lagune ist alles andere als selbstverständlich. Aber war das nicht von Beginn an so? Seit Jahrhunderten schreibt sich die menschliche Geschichte in der Lagune nur von Augenblick zu Augenblick fort. Wer es gelernt hat, mit Ungewissheit und Veränderung zu leben, kann darin vielleicht auch eine unbestimmte, doch schier unverwüstliche Geborgenheit finden. Das hat mit öden Fatalismus nichts zu tun. Die Zukunft Venedigs und seiner Lagune ist tatsächlich zum Fürchten. Doch es paßt auch zum Wesen dieser theatralischen Wirklichkeit, ihren seltsamen Reiz zu empfinden, Farben im schwindenden Licht zu entdecken, sich heiter und melancholisch treiben zu lassen.
Diego Valeri schrieb in seiner „Fantasie Veneziane“:
Die Schönheit dieser letzten Stunde scheint mir in den nebeneinander fließenden, feinen Streifen ausgedrückt, die hier ganz nahe die Erde vom Wasser, und jenseits, das Meer vom Himmel trennen. So verweilen wir, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, frei zwischen den beiden Grenzen der Unendlichkeit und leben, als wären wir an ihrem Treffpunkt, der die Ewigkeit ist. Nur dieser Landschaft ist die Seele ergeben.


Aus dem Kriminalroman: Himmel Polt und Hölle

1. Kapitel: Sommerspiele

Simon Polt spürte rauhe, rissige Rinde unter seiner Hand. SWie alt wird so ein Nußbaum?S
SWeiß ich nicht genauS. Friedrich Kurzbacher schaute zum Blätterdach hinauf. Kaum ein Sonnenstrahl drang durch, aber der Schatten glühte in der Hitze, die seit Wochen über dem Land lag. SFünfzig, sechzig Jahre, ein Menschenalter vielleicht. Den da hat mein Vater gepflanzt, als ich zur Welt gekommen bin. Aber der Baum ist nicht mehr gut beieinander, seit ihn der Frost erwischt hat, vor drei Jahren.S Polt nickte langsam und griff in eine Höhlung des Stammes, an deren Rändern die Rinde auseinanderklaffte wie eine offene Wunde. Er zerrieb morsches Holz zwischen Daumen und Zeigefinger. SWär schade um ihn, nicht wahr?S
SEigentlich sollt ich ihn umsägen. Aber so lang er noch austreibt, im Frühjahr...S Kurzbacher schaute zum Weingarten hinüber, der vor seinem Preßhaus lag. Über den Reben zitterte die Luft. SRegen könnten wir brauchen. Wenn das so weiter geht, gibt"s eine Notreife.S SUnd das bedeutet?S
SWässrige Beeren, dünne Weine.S
SGott bewahre!S
Kurzbacher schmunzelte. SWenn´s um den Wein geht, wird er sogar fromm, der Herr Gendarm. Trinken wir was?S
SWeiß nicht recht, ich vertrag nicht viel bei der Hitze.S SDann eben wenig.S Der Weinbauer ging auf die offene Preßhaustür zu, und Polt folgte ihm.
Nur den Sommer über war der Aufenthalt in den Preßhäusern wirklich angenehm. Im Herbst gab es jede Menge Arbeit hier, im Winter war es in den kleinen, weißgekalkten Gebäuden eiskalt, und die dicken Mauern hielten die Kälte auch noch im Frühjahr fest. Im Sommer aber blieb die Hitze draußen, und drinnen war es fast so kühl wie in einer Kirche. Polt empfand auch jedesmal so etwas wie unheilige Andacht, wenn er ein Preßhaus betrat. Das mochte am eigentümlichen Geruch liegen, gemischt aus alten Holz und Wein, aber auch die Ausstattung des Raumes hatte damit zu tun. Was der Mensch hier so brauchte, um es bequem zu haben, einen Tisch und irgendwelche Sitzgelegenheiten, war nicht weiter wichtig. Dafür mußten Möbelstücke herhalten, die für den Bauernhof schon viel zu schäbig waren. Aber alle Behältnisse und Gerätschaften, die den Weg der Trauben zum Wein begleiteten, standen würdig und ordentlich da, wie für ein erstarrtes Ritual, das erst wieder zur Zeit der Lese seinem Jahr für Jahr gleichen Ablauf folgen würde.
Das galt besonders für Preßhäuser wie das von Friedrich Kurzbacher, wo noch eine alte Baumpresse den Raum beherrschte. In den mächtigen Preßbalken war eine Jahreszahl eingeschnitzt: 1779. Damals war Österreich noch eine Monarchie gewesen, und die Bauern mußten sich in das Diktat der Grundherren fügen. Die Gegenwart war durch einen kleinen Wandkalender vertreten, Geschenk der Aloisia Habesam, überaus gut sortiert in Gemischtwaren und Gerüchten. Polt kannte solche Kalender aus seiner Kindheit. Über einem dicken Block mit einem Abreißzettel für jeden Tag des Jahres tanzten zwei Zwerge aus erhaben geprägtem Karton. Er hörte die Stimme seines Freundes von der Kellertür her. SMacht´s was? Ich habe eine Flasche Grünen Veltliner offen.S SSchon gut!S Polt hatte Durst und nicht nur Durst. Er hatte auch so richtig Lust auf diesen jungen, spritzigen Wein. SHalb voll.S Sagte er trotzdem vorsichtig.
Der Kurzbacher füllte das Glas bis zum Rand. SDie obere Hälfte, wenn´s recht ist.S
Sein Gast neigte heiter resignierend den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck. Der frische Geschmack von Trauben füllte den Mund, berührte leichthin den Gaumen, und kehrte für einen kleinen verführerischen Abschied wieder. Polt seufzte, streckte behaglich die Beine unter dem Tisch aus, senkte seine Nase und genoß den Duft, der ihn an sonnenheißes Weinlaub erinnerte, an warm leuchtende Herbsttage in der Kellergasse. Das Glas war angenehm kühl in seiner Hand, im strohgelb leuchtenden Wein tanzten hellgrüne Lichter.
Die zwei Männer tranken eine gute Weile schweigend und ließen die Stille reden, mager und faltig der alte Weinbauer, der Gendarm von achtungsgebietender Leibesfülle.
Friedrich Kurzbachers Preßhaus stand ein wenig abseits der großen Brunndorfer Kellergasse für sich allein. Auf dem schmalen Güterweg, der sachte ansteigend vom Talboden zum Waldrand am Grünberg führte, gab es wenig Verkehr. In den Weingärten ringsum wurde um diese Zeit kaum gearbeitet, und die Getreidefelder waren abgeerntet. Hier fiel es Simon Polt leicht daran zu glauben, daß die Zeit einfach den Atem anhielt, um einem Gendarmen und seinem Freund Ruhe zu gönnen. Eigentlich gab es keinen wirklich ernst zu nehmenden Grund dafür, den mittlerweile unendlich schwer gewordenen Hintern jemals wieder zu heben Immerhin hob Polt sein Glas und schaute ins blendend helle Sonnenlicht, das durch die Tür und die kleinen Fensteröffnungen drang. SEin Sommertag und dein Grüner, Friedrich, da fehlt nicht viel zum Paradies!S
Der Kurzbacher faßte sein Gegenüber irritiert ins Auge. SJaja, der Wein passt schon in diesem Jahr. Aber vor ein paar Tagen hab ich einen Veltliner vom Höllenbauern gekostet... da kommt unsereiner nicht mit.S SGlaub ich nicht.S Sagte Polt, um dem Kurzbacher eine Freude zu machen. SDann verstehst nicht viel.S SAuch wieder wahrS, gab der Gendarm friedlich zu. SWeißt du übrigens, daß unser Kirchenwirt, der Franzgreis, einen Zimmergast hat?S SNein. Was für einen?S SEinen Wiener. Angeblich will er über unseren Wein schreiben.S SSoso.S Der Weinbauer hatte nicht richtig hingehört, weil ihn etwas ablenkte. Sepp Räuschl stand in der Türöffnung und wartete schweigend. STrinkst vielleicht auch was?S fragte der Kurzbacher nach einer Weile. Noch immer wortlos trat der Besucher näher, nahm Platz, griff nach dem gefüllten Glas, kostete, nickte anerkennend und grinste. SIst was?S fragte Polt.
Räuschl trank noch einmal und wischte sich mit der Hand über den Mund. SIn der Nacht! Wissen´s das noch nicht, Herr Inspektor?S SIch war nicht im Dienst.S
SJemand hat vors Gemeindeamt von Burgheim geschissen. Genau vor die Eingangstür.S
SUnd?S
SDie Gemeindearbeiter haben´s weggeräumt, zu dritt. Tun ja alles miteinander. Auch das Saufen.S
SDa hat´s aber einer sehr eilig gehabt.S Kurzbacher griff nach der geleerten Flasche. SIch hol einen Frischen.S
Räuschl wandte sich an den Gendarmen. SWenn sie mich fragen, Herr Inspektor, Notfall war das keiner.S
SSondern?S
SWas weiß ich. Vielleicht einer von den Jungen. Die sind ja mit dem Bürgermeister übers Kreuz seit diesem, na...S
SClubbing?S
SJaja, in der Art. Möchte wissen, wer so etwas braucht auf dem Land. Früher hat´s ein Kirtag auch getan.S
SMit Rauferei, nicht wahr?S
Inzwischen war der Kurzbacher aus dem Keller zurückgekommen, öffnete die mitgebrachte Flasche, schenkte nach und holte aus einer altmodischen Einkaufstasche Brot und Speck. SZugreifen, Leute! Viel ist es nicht, war nur für mich gedacht.S
Die drei Männer aßen und tranken und redeten und tranken. Das Sonnenlicht draußen wurde rötlich und erlosch, die langen Schatten versickerten in der Dämmerung, dann wurde es nacht. Kurzbacher hatte Licht gemacht. Irgendwann trat Polt ins Dunkel vor dem Preßhaus, um Wasser zu lassen. Er schrak zusammen, als er neben sich eine leise Stimme hörte. SHerr Inspektor! Ist es gestattet?S Der Gendarm kannte die Stimme und er kannte den Geruch. Kein Zweifel: Bruno Bartl stand neben ihm. Polt schob ihn ins Preßhaus. SDer Bruno ist am Verdursten, Friedrich!S SNa, so was!S Kurzbacher füllte ein Glas, Bartl trank es in einem Zug leer und hielt es mit bittender Gebärde dem Weinbauern hin. Nach dem dritten Glas wurde er ruhiger und setzte sich zu den Männern an den Tisch. Er wohnte unter erbärmlichen Verhältnissen in einer Weingartenhütte, und sein Alltag bestand seit vielen Jahren nur darin, sich irgendwo und irgendwie den täglichen Rausch zu holen. Aber Bartl war ein ruhiger und umgänglicher Mensch mit besseren Manieren als so mancher im Dorf, darum ließ man ihn leben, wie er es wollte. Polt schaute ihm nachdenklich ins Gesicht. Normalerweise zeigte es um diese Zeit nur noch betrunkenen Frieden. Doch diesmal meinte Polt etwas Unruhiges, Gequältes zu erkennen. SMuß ich mir Sorgen machen Bruno?S
Bartl senkte den Blick. SAngst habe ich. Angstvoll viel Angst.S SJa, und was oder wer macht dir Angst?S
Bartl hob den Kopf und schaute Polt aus ungewohnt klaren Augen an. SIch. Ich mach mir Angst.S
Räuschl lachte, und Kurzbacher legte Bartl den Arm um die schmalen Schultern. SWie bringst du denn das fertig?S
Bartl schwieg lange. Dann schob er sein leeres Weinglas von sich und faltete die grindigen Hände. SMein ist die Rache, spricht der Herr.S Polt beugte sich überrascht vor. SUnd von wem hast Du das?S SVom lieben Gott.S
SGar so lieb klingt das aber nicht.S
SNein.S Bartl war aufgestanden, eine kleine, elende Gestalt. SDas ist nämlich so: Ich wachse mir über den Kopf, himmelhoch über den Kopf. So ist das.S Dann ging er.
Kurzbacher schaute ihm nach. SDer will sich wichtig machen, was?S Der Gendarm seufzte. SWenn ich das nur wüßte.S


Aus: "Der Asoziale". Ein Märchen für Erwachsene.

Erste Umrundung:
Wie aus dem Nichts ein Niemand wurde der sich einen Namen machte.

Die Hitze lag wie eine dicke, weiche Frau auf dem Dorfplatz, der ihr Liebhaber hätte sein können. Doch er schlief, weil ihm nichts anderes übrig blieb in diesem Sommer, der die Welt gebieterisch in seine trägen Träume holte. Der Dorfplatz schlief und die Katzen des Dorfes schliefen. Janosch, der Streuner, lag lang ausgestreckt im Schatten des Kriegerdenkmals. Er war sehr mager um diese Zeit, in der ihm Kämpfe und Leidenschaft alles abverlangten. Die seidenhaarige Minka hatte sich im Garten des Pfarrhauses unter einem Apfelbaum zusammengerollt. Bald würde es Katzenkinder geben. Mauri, die schöne Exotin, lag in einer weißgekalkten Nische hinter dem offenstehenden Hoftor und ihr zierlicher Kopf war auf die adrett nebeneinander gelegten Vorderpfoten gebettet. Von den übrigen Katzen im Dorf war keine zu sehen.
Auch davon, daß in den Häusern Menschen wohnten, war an diesem Sonntagnachmittag kaum etwas zu bemerken. Noch am Vormittag war der Pfarrer unter hellem Orgelklang an der Spitze der himmlischen Heerscharen wider die Mächte der Finsternis geritten, der Bürgermeister hatte später am Stammtisch eine Rede zur Lage der Nation gehalten, und der Lehrer war dabei in beredtes Schweigen versunken, griff aber öfter zum Weinglas als sonst. Die Bauern des Dorfes hatten den himmlischen und den irdischen Mächten bedächtig zugenickt, sich die Köpfe schwergetrunken. und waren dann, hungrig geworden, zu ihren Frauen gegangen.
Nachdem also erledigt war, was es an einem Sonntag zu erledigen galt, war nur noch Sommer.
Das Dorf lag am Rand einer weiten Ebene, eine Handvoll weißes Mauerwerk zwischen dem mattblauen Spiegel des riesigen Steppensees und dem Grün der Rebenhügel.
Die große Stadt, kaum eine Stunde entfernt, war an diesem Sommertag wie ausgelöscht, und die große weite Welt, die einige im Dorf kannten, weil sie schon dort gewesen waren, schien nur noch ein Gerücht zu sein. Aber der Dorfplatz wuchs, von allen unbemerkt, über sich hinaus, über den Horizont und über alle Grenzen hinweg. So groß war er zuletzt, daß er auch die hintere Mongolei umfaßte, die lybische Wüste und die Gemüsegärten von Horitschon. Dann vergaß die Zeit sich ins Ticken der Uhren und in den Lauf der Gestirne zu fügen, Künftiges verwob sich mit Vergangenem und der sonst so flüchtige Augenblick verweilte und ließ sich auch noch mit der Ewigkeit ein. "Was soll ich mir dir?" Schwieg sie. "Halt still!" Flüsterte der Augenblick zärtlich und aufgeregt und schon war alles vorbei.
Als am späteren Nachmittag zwei Kinder über den Dorfplatz liefen, fanden sie etwas, das sie nicht kannten. Weil es aber zum Spielen nicht taugte, trugen sies zum Pfarrer. "Schaut nach nichts aus und sieht niemanden ähnlich" murmelte er nachdenklich und ließ vorsichtshalber den Lehrer holen. "Ein Nichts", urteilte dieser streng, "und wohl auch zu nichts nutze." "Aber wir werden mit ihm leben müssen", seufzte der Pfarrer und wandte sich der kleinen Gestalt zu. "Hunger?" Ein kleiner, runder Mund tat sich auf, der Pfarrer schob Brot und fette Würste hinein und erst als er "Schluß jetzt" sagte, tat sich der Mund zu.
Noch am Abend desselben Tages versammelten sich einige weitblickende Männer im Wirtshaus. "Er ist da, also lassen wir ihn eben mittun" sagte einer von ihnen, und die anderen nickten. Aber daraus wurde nichts. Im Weinkeller öffnete die seltsame Gestalt einfach schweigend den kleinen, runden Mund, ließ Wein in sich hineinlaufen, und hielt erst inne, wenn einer "Schluß jetzt" sagte. Als man ihn anläßlich der Hochzeit der Gemischtwarentochter mit dem Landesproduktenchauffeurssohn zu einer Rauferei bat, versteckte sich das Nichts zwischen den bebenden Brüsten der tschechischen Serviererin, die irgendwann, kein Mensch weiß warum, im Dorf geblieben war. Als man ihn endlich sogar im Kirchenchor mitsingen ließ, stieß er ein so schauerliches Schweigen aus, daß sich die frommen Frauen dreimal bekreuzigten.
Wieder kamen die Männer im Wirtshaus zusammen. Ein nichtsnutziges Nichts." Urteilte diesmal empört der Bürgermeister. "Eigentlich nicht einmal ein Nichts. Ein Asozialer. Und damit basta."
In einer weit entfernten Gegend saß indes ein Kind und zeichnete: Eine runde Welt mit runden Menschen und runden Träumen. "Was wird das?" Fragte sein Vater, der Landarzt war. "Nichts". sagte das Kind.


Aus: Gott hab uns selig. Sehr österreichische Geschichten

Es war einmal ein Zug, ein ganz und gar unbedeutender, dreimal täglich verkehrte er, außer Mo, und die wenigen Gäste, die er transportieren durfte, empfanden keine Sympathie für ihn. Er war ein notwendiges Übel, aber zu schäbig, zu laut und zu langsam. So begab es sich, daß der Zug kurz nach seiner planmäßigen Abfahrt einen akuten Identitätsverlust erlitt, seiner selbst überdrüssig wurde und bei allem eingefahrenen Pflichtgefühl nicht mehr den geringsten Antrieb verspürte. Er wollte nicht mehr weiterkommen, nicht einmal langsam, und am Zielbahnhof ankommen, das wollte er schon gar nicht. Unmerklich verlangsamte er die Fahrt und einer der Fahrgäste, der alle fünf Minuten aus dem Fenster schaute und immer wieder den gleichen Baum erblickte, kam überrascht zur Überzeugung, daß ihm die Allee neben dem Fahrdamm bisher noch gar nicht aufgefallen war.
Zug um Zug begann auch die Zeit müde zu werden und hörte damit auf, mit der Zeit zu gehen, wenigstens was diesen Zug betraf. Die Uhren der Fahrgäste begannen zwischen dem Ticken verhalten zu gähnen und der Tag vor den Fenstern dehnte sich behaglich, schlief ein und deckte sich mit einem dünnen Tuch Unendlichkeit zu.
In einem leeren Abteil saß der greise Schaffner und erst, wenn sein schlohweißer Bart siebenmal um den Lokführer gewachsen sein wird, besteht der Hauch einer Möglichkeit, die Dinge zu ändern, sehr, sehr langsam natürlich. Soweit ist es aber noch nicht. Bitte entschuldigen Sie die Verspätung.


Aus: Traum ist Regen, der in den Himmel fällt

Der Baum

Ein Kind hatte dem Baum seine Wiese geschenkt, damit er in ihr zu wohnen konnte, den hohen Maulwurfshügel vor den Toren der Stadt und ein Wolkenschiff über den Dächern.
Ein Narr hatte den Baum gelehrt, die Welt abzuzählen, an den fünf Zweigen einer Hand und ein Bettler hatte ihn reich gemacht: ein Pfifferling lag zu seinen Füßen, Katzengold und ein roter Apfel. Doch der Bürgermeister kam und fragte: wie ist das nun, Herr Baum? Eingewandert? Eingebürgert.? Eingemeindet.?
Doch der Richter kam und fragte: wie ist das nun? Vorname? Vorleben? Vorstrafen.?
Doch der Pfarrer kam und fragte: wie ist das nun.? Abbitten Ablässe, Ableben? Nun, Leute, schwieg der Baum hölzern, ich wachse hier nur so vor mich hin. In meinen Himmel, wenn's beliebt.
Und einer, mag sein, ein Freund, stand auf und sagte: Ich bin da neben ihm und flechte meine Gedanken in seine Zweige. Und Bürgermeister und Richter und Pfarrer rissen den Beiden je ein Laubblatt aus, als Zehent, und gingen ratlos zurück in ihre Amtsgebäude, und der Wind tanzte auf ihren Nasenspitzen.

Das letzte Gelächter des Harlekins

Er drehte die Welt in seinen Händen und überlegte, was mit ihr anzufangen wäre, weil er sie nicht gleich wegwerfen wollte.
Erst prügelte er sieben Kriege windelweich, mit einem Ölzweig, dann steckte er den Weisen dieser Welt je einen Gänsekiel ins Hinterteil.
Die frommen Bürger stieß er so lange mit den Köpfen gegen den Himmel, bis sie bunte Beulen hatten, an den wohlfeilen Heiligenscheinen.
Den Staatsoberhäuptern band er die Grenzen um ihre geschwollenen Hälse bis ihre Reden blau anliefen und verstummten. Die Gerechten ließ er erzittern, vor ihren, so überaus gerechten Spiegelbildern, die Helden froren unter ihren zerschlissenen Heldentaten und die vieledlen Damen schürzten behend die roten Röcke und jede hatte ihren Preis.
Die Stadt hustete sich die Seele aus den Kaminen, der Fluß drehte sich um in seinem Bett: jetzt schwammen die Toten oben, die Konservenbüchsen und die runden Steine.
Der Himmel kam herab und soff die sieben Meere leer: er rülpste heftig in diesen letzten Tagen. Und das Gelächter war dunkel geworden, er warf es über die Schulter, die Welt hintendrein.


Aus: Radio

Herr von Z wäre nur zu gerne General geworden. Aber die neuen Zeiten und die neuen Kriege waren wohl nichts für Herren vom alten Schlage und so verdiente Herr von Z. sein Brot als Erzeuger standesgemäßer Herrenbekleidung. Als er sich eines Tages entschloß, in den wohlverdienten Ruhestand zu treten, verblieben ihm einige der von ihm gefertigten Anzüge. Herrn von Z.s Arbeitsweise war nämlich höchst bedächtig und so kam es immer wieder vor, daß Kunden noch vor dem Fertigstellungstermin verarmten verstarben oder auswanderten. Nun, da er über Zeit verfügt, trägt Herr von Z. die Anzüge auf - Montag geht er im grauen Flanell eines gewesenen Oberbuchhalters pünktlich von zuhause weg, kontiert, rechnet auf, rechnet ab, zieht endlich Bilanz und geht pünktlich Nachhause.
Dienstag schlüpft er in den Anzug eines Windbeutels, er damals prompt nicht bezahlen konnte, macht Schulden, säuft ein wenig, schaut den Damen nach und wagt ein Spielchen.
Mittwoch geht er im Nadelstreif eines Prokuristen auf Geschäftsreise, Donnerstag besucht er trachtig bäuerlich die Fleckviehversteigerung, Freitag wartet er im schlichten Waffenrock auf neue Befehle, Samstag liest er unaufdringlich elegant und nadelgestreift den Börsenkurier und Sonntag - ja Sonntag, da ist er, wie er ist. Herr von Z. Nackt und rosig in der Badewanne . Einen Panzerkreuzer hat er soeben versenkt. Und mit den U Booten wird er auch noch fertig ..


Aus: Radio

Nero war ein Rummelplatzhund. Er hatte mit einer Rummelplatzhündin einige Rummelplatzhundekinder. einen Herrn der ihn fütterte, und ihn nie verstehen würde, ein schiefes Ohr und den Schimmer des Abenteuers In seinen so gar nicht treuen Hundeaugen.
Eines Abends, überall hatte man bunte Lichter in den Himmel gesteckt, hatte Nero Sehnsucht. Er näherte sich einer Hundedame adeligen Stammbaums, raubte deren verlorene Unschuld ein weiteres Mal, triumphierte über die Klassengesellschaft und legte sich tags darauf zufrieden in die Sonne.
Als die Hundedame eines Abends wiederkam, war sie in Begleitung eines feschen Schäferhundes, zu dem sie sagte: Schau, Rüdiger, mein Abenteuer vom letzten Sonntag! Fabelhaft dreckig, sage ich Dir. Aber auf die Dauer ziehe Ich doch den Rassehund vor. Und Rüdiger nahm sichs zu Herzen.
Nero hingegen grub einen Knochen aus, den er beinah vergessen hatte und entschloß sich, bissig zu werden.


Aus "Parnaß", Reihe: Innenansichten.

VOGELFÄNGER: DIE VERLEGER

Lexika definieren das Wort "Verlegen" mit dem Vorgang des Zurechtlegens von Nistmaterial als Instinkthandlung beim Nestbau. Das mag wohl stimmen, doch legen wir den Sonderfall eines verlegenden Verlegers zugrunde, dann muß zumindest die Instinkthandlung entschieden in Abrede gestellt werden. Ob Verleger hochherzig, dumm, weitblickend, tollkühn, elitär oder heimtückisch verlegen: Sie tun es mit Absicht. Sie bauen ihre Nester auch nicht als trautes Heim für das eigene Fleisch und Blut, sondern als Spekulationsobjekt. Im Biotop der freien Marktwirtschaft bieten sie bunten Vögeln aller Art fertige Nistplätze an, Hilfe beim Eierlegen und Unterstützung bei der Aufzucht. Sind die Ergebnisse kreativer Fruchtbarkeit dann endlich flügge, werden sie vom Verleger aus dem Nest geklaubt und vermarktet. Das tut den geflügelten Müttern und Vätern natürlich weh. Andererseits: Es steht im Vertrag. Ganz abgesehen davon braucht die notwendigerweise doppelte Moral einer Leistungsgesellschaft, die kulturellen Werten ebenso bewundernd wie ratlos gegenübersteht, den Verleger. Er besorgt die fachgerechte Erniedrigung des angebeteten Werkes zur Handelsware: die Unschuld des Künstlers bleibt bewahrt, auch wenn er nicht unschuldig sein sollte und schon gar kein Künstler. Trotzdem gäbe es keine Verleger, hätten nicht jene, die Werke in die Welt setzen, den dunklen Drang ans Licht der Öffentlichkeit. Ihm blindlings zu folgen, wirkt allerdings ordinär. Man benötigt also einen Erfüllungsgehilfen. Natürlich gibt es die rührende Ausnahme des sich selbst verlegenden Kreativen: Während andere rufen: Kauft Simmel! Kauft Handke! Kauft Muliar! Ruft er: Kauft mich! Das klingt nicht gut. Es bleibt nun einmal den Hühnern vorbehalten, durch lautes Gackern auf die jüngste Hinterlassenschaft hinzuweisen. Bevor es allerdings zu einer Beziehung zwischen Verleger und Verlegtem kommt, findet das peinliche Schauspiel gegenseitiger Annäherung statt. Unauffällig betritt der Verleger das Haus käuflicher Kreativität und mustert mit als Interesse getarnter Schamlosigkeit, was sich hier so räkelt, rar macht, oder verklemmt herumdrückt. Die vielen, die sich jedem an den Hals werfen würden, auch zum Nulltarif, oder notfalls sogar geöffneten Sparstrumpfes, will keiner. Jene, mit denen eine Liaison reizvoll, doch riskant wäre, leistet man sich vernünftigerweise nur, wenn schon ein paar verläßlich einträgliche Pferdchen im Stall stehen und die wenigen endlich, die das Herz jedes Verlegers höher schlagen lassen, sind entweder in festen Händen oder treiben es mit jedem. Lassen wir die große, aber wenig reizvolle Gruppe jener Verleger beiseite, die einfach marktgerechte Produzenten für den von ihnen bearbeiteten Sektor suchen, zeichnen sich schon im Vorfeld der Beziehung bemerkenswerte Strukturen ab. Zwanglos gruppiert, Artgenossen mit Herzlichkeit oder gar Freundschaft begegnend, machen jene auf sich aufmerksam, deren herzerwärmend gewinnendes Wesen verbunden mit Esprit, Sachverstand und heiterem Kunstsinn eine Beziehung von beglückender Intensität verspricht. Daß Geld in einer solchen Verbindung nur eine verzichtbare Nebenrolle spielen kann, wird jedem einleuchten. Abseits der Gruppe schreiten hageren Gemütes und mit gefurchtem Intellekt ehrfurchtsgebietende Gestalten ihres edlen Weges, stets bereit, erhobenen Hauptes zu dienen, vorausgesetzt, der erwählte Partner ist sich der Ehre bewußt, solcher Selbstlosigkeit teilhaftig zu werden. Andere sitzen wie Säulenheilige auf den Gipfeln ihres elitären Kunstverständnisses, ihres selektiven Programms oder ihrer eigen- willigen Persönlichkeit und beobachten mit höflichem Bedauern vergebliche Kletterversuche, Ausrutscher und Abstürze. Gelingt aber dann doch einmal der Gipfelsieg, ist die Umarmung triumphal und von verzehrender Heftigkeit. Zwischendurch schlendern ein paar Neureiche herum und blättern anzüglich in ihren Scheckbüchern: Geld machen sie mit mittelmäßigen Massenprodukten. Jetzt hätte sie noch gerne ein paar Namen zum Herzeigen. Um den Stammtisch sitzen die Etablierten: Der Schatz ihrer Erfahrung ist von so betäubender Größe, daß es sich erübrigt, sie zu erweitern oder gar zu erneuern, der Grad ihrer Professionalität ist von so staunenswerter Höhe, daß selbst undenkbare Herausforderungen a priori als gemeistert gelten müssen und die Wucht ihrer Urteilskraft ist dermaßen profund, daß sie das jüngste Gericht achselzuckend zur Kenntnis nehmen wird müssen. Geht einer dieser Verleger irgendwann doch vor die Hunde, dann nur, weil sich die Welt wieder einmal nicht an seine Gesetze gehalten hat. Bleiben noch jene mildtätigen Gestalten zu erwähnen, die, selbst zerlumpt und darbend, behutsam einhergehen, Schwache an ihre knöcherne Brust drücken, Unverstandenen ihr Ohr leihen und Stummen ihr schwaches Stimmchen geben. So sieht´s also aus, im Hause der käuflichen Kreativen. Alles ist möglich, sehr moralisch ist das alles nicht, doch kaum sind sich zwei einig geworden, bedeckt bürgerliche Ordnung den Vollzug der Paarung. Man schreitet zu Vertrage: Der geliebte Partner, im folgenden kurz Autor genannt, verpflichtet sich zur Kindesweglegung. Der Verleger verpflichtet sich zur Fürsorge und Verwertung. Sollte sich ein Kind dieser Verwertung hartnäckig widersetzen, wird es verbilligt, oder in Streifen geschnitten. Da nun Recht und Ordnung herrschen, werden es sich die Partner unverzüglich gönnen, ihre wahren Gesichter zu zeigen: Die Autoren sind so, wie man es von ihnen erwarten mußte und die Verleger ändern sich getreu ihrem ursprünglichem Erscheinungsbild: Die Charmanten werden zu Hallodris, die Heiligen zu Fanatikern, die Neureichen zu Scheckfälschern, die Etablierten ziehen sich in ihre Filzpantoffel zurück und die Mildtätigen halten die Hand auf. Natürlich verändert sich nicht alles und oft behält der Grund- satz vieler praxistauglicher Beziehungen seine Gültigkeit: Besser so einer, als gar keiner. Auch ist es für das tiefere Verständnis eines Verlegers unabdingbar zu bedenken, daß er ja nicht nur mit jenen zusammenlebt, die ihn mit Zeilen, Noten oder Bildern beliefern, sondern auch mit seinen Kunden. Schreit ihm sein Schützling (oder Objekt der Ausbeutung) in wilder Verzweiflung entgegen, es sei ihm aber schon wirklich ganz und gar völlig egal, was das blöde Volk da draussen lesen wolle, fragt eben derselbe nach der Drucklegung zwischen zwei launigen Bemerkungen verdächtig bei- läufig und mit seltsam spröder Stimme, wie das nun sei, mit dem Verkauf. Verleger, die tapfer genug sind, das janusköpfige Wesen ihres Berufes von Zeit zu Zeit zu hinterfragen, werden sich allzu oft in der lächerlichen Rolle eines Predigers wiederfinden, der inmitten einer Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes zu gegenseitigem Verstehen aufruft. Auch wird ihn die Macht, die er ausübt, beunruhigen: Nur durch und durch gefestigte Persönlichkeiten werden sich seiner Lenkung entziehen. So muß er es dann etwa verantworten, einen reinen Jünger der Kunst zu einem zynischen Rattenfänger verformt zu haben, nur, weil er ihn lehrte, wie Erfolg funktioniert; oder am Unglück eines vordem Glücklichen schuld zu sein, der seine Inferiorität in jenem Augenblick erkennen mußte, in dem ihn der Verleger großzügig in die Reihe seiner Besten stellte. Nicht weniger problematisch ist der Einfluß des Verlegers auf seine Kunden: Er wird schuldig, wenn er schlechten Geschmack mit Junk Food sättigt, er muß sich den Vorwurf der Hochnäsigkeit gefallen lassen, wenn er meint mit seinem Stil auch die Erwartungshaltung seiner Kunden prägen zu müssen. Noch mehr zu bedauern sind allerdings jene Verleger, die längst nur mehr leere Hüllen ihrer selbst sind, deren Namen amorphes Konzerngetöse mit individuellen Klängen schmücken sollen: Ein Bild von erhabener Lächerlichkeit. Doch auch Verleger, die an ihrem Schicksal selbst schuld sein dürfen, werden von einer besonders naheliegenden Abhängigkeit unbarmherzig in die Pflicht genommen: Der, zum Verlag - und dieser Verlag ist nun einmal ein Unternehmen, dazu verhalten, sich zu erhalten. Ein Verleger, der ausschließlich kaufmännische Interessen verfolgt und kongeniale Lieferanten findet, kann sehr viel verdienen, die Bezeichnung Verleger verdient er nicht. Einer, der seine Ideale und die seiner Lieben fernab jeder Realität umsetzt, wird zwar veröffentlichen, doch unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Es können also gar nicht genug Seelen in der Brust des Verlegers wohnen: Ihr diffiziler Widerspruch, ihr inniges Aufeinanderprallen, ihre schmerzhafte Verflechtung lassen endlich jenen Lockruf erschallen, dem Autoren und Leser gleichermaßen folgen. Der spannungsgeladenen Innenwelt des Verlegers sollte demnach auch die Konstruktion des Verlages entsprechen: eine sinnreiche Vermengung von Visionären und Buchhaltern, Hasardeuren und Tüftlern, Wortklaubern und Stilisten. So ganz am Rande und gewollt beiläufig sei auch noch die Beziehung des Verlegers zu seinen Händlern gestreift. Letztere sind einander darin einig, daß es genialer Fähigkeiten bedürfe, jene Makulatur, die Verleger produzierten, auch zu verkaufen, während Verleger einhellig meinen, es bedürfe schon genialer Produkte, um sie trotz der Bemühungen der Händler an ihr Publikum zu bringen. Aber beide, Händler und Verleger, haben einander sehr lieb, und streiten höchstens darüber, wer die Rechnung für das Geschäftsessen übernehmen darf. Ist auch egal: Es zahlen ja doch die Autoren.


(aus: Weinviertel, Tauchgänge im grünen Meer)

Einer von diesen wunschlos verträumten Tagen....
In einem winzigen Kaufhaus im Pulkautal, dicht an der Grenze zu Tschechien, finde ich "Liton Federweiß": wirksam gegen Reiben, Kreischen und Kleben, ideal zum Einstäuben von Schuhen und Handschuhen, geradezu unentbehrlich für das Entfetten der Haare, die Reinigung von Billardstöcken und das Bestreuen von Tanzböden. Knappe fünf Schilling, mein Freund, und du bist für das Leben gewappnet.
Man stöbert indes weiter im Geviert: eine genießerisch im Duft von Schokobananen und Waschpulver sich kräuselnde Neugiernase. Ich könnte ja Kellerkerzen kaufen, zwecks unterirdischer Erleuchtung, scharfe, fette Sardinen - schimmernde Wehr wider den Dämon Alkohol - oder ein blaues Schulheft, liniert, sollte eine der reizend runden heimischen Musen den Mund zum Kusse spitzen.
Aber nein, wozu sich mit irdischen Gütern beladen, an einem Tag, der nur Fensteraugen schauen und wissen, daß geschlossene Tore und trotzige Fassaden nur vordergründig abwehren, was allzu laut ist, oder allzu fremd. Zum Wirtshaus sind's nur ein paar Schritte, am Kriegerdenkmal vorbei, dessen steinerner Löwe so dreinschaut, als habe er gestern mehr als ein Glas zuviel getrunken. Ja, und dann ein vorsichtiger Schritt ins rauchige Halbdunkel, ein Blick in die Runde, die Runde blickt zurück, ruhig, interessiert, mit leisem Nicken grüßend.
Wie legt man sie an, die Rolle des Fremdlings? Anbiedernd schlicht? Städtisch deplaziert? Hochnäsig barsch? Versuchen wir's ohne Theater, wie die anderen auch. Da bin ich, grüßgott, und ich hätte gern ein kleines Bier. Kaffee habe ich schon getrunken, in der Küche der sanften Bäuerin N., neben dem Kachelherd auf der Holzkiste sitzend.
Beiläufig erfahre ich die Neuigkeiten. Der Fußballclub, jawohl, mit c, braucht einen neuen Obmann, am Stammtisch öffnet der Kassier des Sparvereins unter den wachsamen Blicken seiner Stellvertreter die Bücher, und in der Küche schiebt die Wirtin einen ungeheuren Schweinsbraten ins Rohr, da freut sich der Phäake, zahlt und geht und beschließt wieder- zukommen, um die Mittagszeit. Seltsames Licht, so früh am Vormittag: tastend und weiß, ein tiefer, watteweicher Himmel streichelt Baumkronen und Ziegeldächer, Stille wird greifbar. Unvermutet läuft einem jenes schüchterne Flüßchen über den Weg, das dem Tal seinen Namen gibt. Die Pulkau hat ihre Quelle im Waldviertel, in der Gegend um Horn. Im Weinviertel fließt sie träge und verloren durch den flachen Talboden, ein ärmliches Gerinne, noch dazu begradigt, in einen Kerker aus Beton gezwungen, von Amts wegen. Man lernt es hierzulande eben auch als Gewässer früh, sich ins Mögliche zu fügen. Aber vielleicht kommt ja doch eines Tages alles anders und man gönnt der Pulkau ein Flußbett das sie wieder aufleben läßt. Sie würde sich bestimmt dafür erkenntlich zeigen: mit anmutigen Krümmungen und schönen Ufern, und der erschreckend abgesunkene Grundwasserspiegel wieder könnte steigen. Wenig weiter schauen die Dörfer des Tales in ihre heiteren Spiegelbilder. Die Kellergassen, preßhausgesäumt, münden fast alle sanft ansteigend den Himmel, oben, im welligen Hügelland. Hier wohnt der Wein, hier tun ihm die Bauern alle Ehre an, und Gäste sind meist willkommen. Doch man müßte die spaltbreit geöffnete Tür schon aufmachen, eintreten, guten Tag sagen und warten, bis der Mann mit dem blauen Kellerschurz Zeit findet, zu fragen, ob man nicht zufällig den Wunsch verspüre, etwas zu trinken. Liliom steht nicht vor Preßhaustüren. Mir ist nicht nach Wein, noch nicht. Es ist ohnehin ein wenig davon in der Luft, mehr zu ahnen als zu spüren, aber die Gedanken bekommen kleine, blattgrüne Flügel und die Schritte auf werden leiser und leichter. Irgendwann ist die Höhe erreicht, die langen Reihen weißer Häuser bleiben zurück, der Himmel ist mit einem Mal nicht mehr bescheiden. In weichen, ruhigen Wellen dehnt sich die Einsamkeit. Grüne, braune, schwarze Flächen schmiegen sich aneinander, die Wege dazwischen sind nur geduldet und der Mensch halte gefälligst den Mund.